Rasterfahndung nach den Depressiven?


Auch wenn es auf den ersten Blick nicht einleuchtet, es gibt einen kleinen, dünnen fast unsichtbaren Draht zwischen dem Thema Transgender und dem Absturz von Germanwings Flug 4U9525 in den französischen Alpen. Wobei ich davon ausgehe, dass die herrschende Theorie des vorsätzlich durch den Co-Piloten herbeigeführten Absturzes auch stimmt (die Chancen, dass es nicht so war, stehen inzwischen wohl so etwa eins zu einer Million).

Der verbindende Draht ist die Angst vor dem Bekanntwerden einer Erkrankung, einer Schwäche, eines sozialen Makels.

Herr L, der noch am Anfang seiner Karriere stehende 2. Pilot, scheint unter Depressionen gelitten zu haben. Aber er hat sie wohl bekämpft und versteckt zugleich, hat hier vielleicht einmal zaghaft eine Therapie begonnen, sie dann wieder abgebrochen. Immer in dem Dilemma lebend: meine Berufspflichten verlangen, dass ich eine Verschlechterung der Fluglinie melde – aber dann bin ich den Job los, wahrscheinlich für immer. Und im Hinterkopf vielleicht alte Stereotypen: Krankheit ist Schande, ist Schwäche. Piloten aber sind stark, müssen stark sein! Am Vormittag des 24. März 2015 muss ihn dann plötzlich ein Gefühl der Ausweglosigkeit umklammert haben, nachdem er eine ärztliche Krankschreibung ignoriert hatte: „Sie werden es rausfinden, alles ist aus!“ Und dann riss er 149 unschuldige Menschen mit sich in den Tod. Ich glaube nicht, dass es eine von langer Hand geplante Wahnsinnstat war.

Transgender kennen ein ähnliches Gefühl. Man schwankt zwischen dem Wunsch, offen und ehrlich mit seiner abweichenden Geschlechtsidentität umzugehen, und der Angst vor Verlusten: Verlust des Jobs, der Beziehung, der Familie, des Freundeskreises, der sozialen Reputation überhaupt. Ängste, die oft bei nüchterner Betrachtung oder rückblickend übertrieben sind. Man versucht es mit Grätschen und Verrenkungen. Man findet manchmal, je nach TG-Spielart, Kompromisse oder Zwischenlösungen. Manchmal bricht man durch und findet einen geraden, kompromisslosen Weg ins Freie. Manchmal aber auch nicht.

In den Nachwehen der Flugzeugkatastrophe brodelt es bereits beunruhigend im Medienkessel, summst es im Web und gurgelt es in den Eingeweiden der Politik. Der Abnormale, der Kranke als Bedrohung, so lautet die neue Verdachtslage. „Aber da muss man doch etwas dagegen tun!“ Und schon kommt es raus, bricht der Aktionismus durch und findet einen geraden, kompromisslosen Weg in die Überwachungsgesellschaft: Weg mit der Schweigepflicht der Ärzte, her mit der neuen Meldepflicht! Vertrauen war gestern, Kontrolle ist heute! Mehr Psychotests, legen wir neue Datensammlungen an, auf zur Rasterfahndung nach den Depressiven! Denn wer weiß, vielleicht stehen sie ja alle schon vor den Fliegerschulen Schlange? Und da gibt es auch noch andere Macken, die bedrohlich werden könnten….

Sind sie jetzt beunruhigt, fürchten sie die kommenden Kontrollen, haben sie jetzt Angst um ihren Job, das Sorgerecht für ihre Kinder, ihre Pilotenlizenz, ihren Führerschein? Depression muss nicht das Ende sein! Leiden sie still weiter und lernen sie, wie man das Leiden maskiert und im Alltag funktioniert. So wie auch Andreas L den psychologischen Eignungstest für die Pilotenausbildung bei der Lufthansa bestanden hat.

Und halten sie sich in der Zukunft besser von Ärzten und Therapeuten fern!

Nachtrag am 1. April 2015: In den letzten 24 Stunden ist publik geworden, dass der Co-Pilot 2009 als Berufsanwärter eine vorangegangene „depressive Episode“ der Verkehrsfliegerschule der Lufthansa, an der er ausgebildet wurde, gar nicht verheimlicht hat. Nach allem, was man derzeit weiß, wurde er dann nochmals getestet, für tauglich befunden, und konnte die Ausbildung abschließen. Also eigentlich Vertrauen und Kontrolle, beides jedoch im Ergebnis fatale Irrtümer.

Gut gemeint, furchtbar schlecht gemacht


Das kommt heraus, wenn ein österreichisches Bundesministerium eine Reihe von Expertinnen und Experten in ein Zimmer sperrt, ihnen den Auftrag erteilt, das Rad neu zu erfinden, und das Ergebnis anschließend von Angehörigen der hauseigenen Bürokratie politikgerecht durchspülen lässt: „Empfehlungen für den Behandlungsprozess bei Geschlechtsdysphorie bzw. Transsexualismus nach der Klassifikation in der derzeit gültigen DSM bzw. ICD“

Der Verein TransX hat dazu folgenden offenen Brief an die Bundesministerin für Gesundheit veröffentlicht:

„Sehr geehrte Frau Bundesministerin,

WIR LASSEN UNS NICHT UNHEILBAR KRANK MACHEN!

Wir lehnen die vom Bundesministerium für Gesundheit im Juli veröffentlichten und nun schon zweimal revidierten „Empfehlungen für den Behandlungsprozess bei Geschlechtsdysphorie bzw. Transsexualismus nach der Klassifikation in der derzeit gültigen DSM bzw. ICD“ ab: Sie bezeugen kein Verständnis von Transsexualität, fordern Psy*s absurde Stellungnahmen ab und sind dank des Vorliegens internationaler Empfehlungen eine provinzielle Groteske.

Dilettantismus

An der Erstellung hat über 2 ½ Jahre lang ein Expertengremium gearbeitet. Die Endfassung wurde in dem Arbeitskreis nie diskutiert, sondern ministeriell erlassen. Sie strotzt von fachlicher Inkompetenz. Viele Experten wurden übergangen und vor den Kopf gestoßen.

Verständnis von Transsexualität

Für die Behandlung verweist das BMG auf eine Diagnose nach DSM 5 oder ICD 10, ohne festzulegen, welche der beiden teils widersprüchlichen Diagnosen anzuwenden ist. Dabei wird dem DSM 5 unterstellt, dass dessen Geschlechtsdysphorie eine Spannung zwischen dem Geburtsgeschlecht und dem empfundenen Geschlecht sei. Tatsächlich geht es aber um die Divergenz von zugewiesenen und empfundenen Geschlecht, welche ebenso wie der im ICD 10 definierte Transsexualismus durch einen Geschlechtswechel überwunden wird. Statt einer klaren Krankheitsdiagnose verlangt das BMG „die Prognose, dass die Geschlechtsdysphorie bzw. Transsexualismus aus heutiger Sicht (August 2014?) mit sehr großer Wahrscheinlichkeit als dauerhaft eingestuft werden kann“.

Dies ist in mehrfacher Hinsicht absurd:

  1. kann eine Prognose nichts über das aktuelle Leiden aussagen,
  2. ist Transsexualität nicht unheilbar, sondern i.d.R. durch einen Geschlechtswechsel überwindbar,
  3. haben Psychiater, Psychologen und Therapeuten keine Methoden, um die Wahrscheinlichkeit zukünftiger Geschlechtswechsel zu bewerten.

Offensichtlich soll mit dieser Formulierung die Behandlung verzögert und verhindert werden. Eine dauerhafte Transsexualität kann nur erwartet werden, wenn die Betroffenen nach dem Geschlechtswechsel sofort wieder im anderen Geschlecht anerkannt werden wollen oder – worauf die Empfehlungen wohl abzielen – wenn Transsexuellen der Geschlechtswechsel verunmöglicht wird.

Personenstandsrechtliche Aspekte

Die Empfehlungen enthalten auch einen Abschnitt zur Personenstandsänderung, in dem das BMG den Standesämtern anweist, wann diese eine Personenstandsänderung infolge eines Geschlechtswechsel gemäß § 41 PStG 2013 registrieren sollen. Diese Kompetenzüberschreitung des BMG wird durch das Zitieren der Gesetzesquelle als §16 PStG gekrönt.

Hier werden erstmals medizinische Diagnosen zur Anerkennung des Geschlechts verlangt. Dafür ist auch die Dauerhaftigkeit der Transsexualität (nicht der Geschlechtsidentität) zu prognostizieren.

Profund beurteilt kann Ihre Geschlechtsidentität nur durch Sie selbst werden. Wer ein Geschlecht wählt, wird es auch leben. Und das ist auch vom Staat anzuerkennen.

Anerkennung der internationalen Empfehlungen

Die österreichischen Empfehlungen behaupten, sich an den internationalen Standards of Care (SoC 7) der WPATH zu orientieren. Tatsächlich haben sie mit diesen von Experten regelmäßig überarbeiteten Empfehlungen kaum etwas zu tun: zu wesentlichen Aspekten der Behandlung, etwa zur Hormontherapie, zur Behandlung Jugendlicher oder von Personen, die ohne psychiatrische Untersuchungen über Jahre hinweg Hormone genommen haben, schweigt sich das BMG-Dokument aus und beschränkt sich auf die Zulassung zu Behandlungen.

Österreichs Transsexuelle brauchen keine Sonderbehandlung. Brauchen unsere Fachärzte und Krankenkassen wirklich eine? Warum will man sich gerade für Transgender in Österreich von der Globalisierung abkoppeln?

Wir bitten Sie, sehr geehrte Frau Bundesministerin, diese Empfehlungen zurückzuziehen und die internationalen WPATH-Standards auch in Österreich anzuerkennen.

Mit freundlichen Grüßen

Eva Fels – TransX – Verein für TransGender-Personen

Wien, 11.10.2014″

Man kann auch mit einer Online-Petition gegen diesen Blödsinn protestieren: Wir lassen uns nicht unheilbar krank machen!