Ballverlust


Operetten-Kritik 

Bühne Baden, Sommerarena, 31. Juli 2013

Richard Heuberger“Der Opernball“ (Léon/von Waldberg [Libretto], Bibl/Herzl/Ronzoni/Wahl [Einrichtung] )

Inszenierung: Volker Wahl und Michaela Ronzoni  (4. Aufführung in dieser Inszenierung)

Dirigent: Oliver Ostermann

Hortense ….. Julia Koci

Margret ….. Frauke Schäfer

Georg ….. Matjaz Stopinsek

Elise ….. Barbara Payha

Paul ….. Thomas Sigwald

Heini  ….. Elvira Soukop

Theophil ….. Heinz Zuber

Palmyra ….. Edith Leyrer

Cisnik  ….. Josef Forstner

Dodo ….. Gabriele Kridl

Herman/Graf Felsenberg/Ministerialrat ….. Artur Ortens

Eugen ….. Robert Sadil

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Den ersten Fehler bemerkt man gleich beim Aufschlagen des Programmheftes. Die Rollennamen! Hier hat wieder einmal der Korrekturstift vorwitziger Bearbeiter gewütet und das Stück in ein „wienerisches“ Korsett gezwängt. Aus dem französischen Marinekadetten „Henri“ einen „Heini“ zu machen, zeugt nun auch wirklich von Fantasie! Meine persönliche Grundregel für die Bewertung der Wiener Operette lautet allerdings: erstes Indiz für die Qualität des Librettos ist die Entfernung des Schauplatzes vom Stephansturm! Ein Stück, das auf einer flotten und für ihre Zeit recht frivolen französischen Boulevardkomödie („Die rosa Dominos“ von Delacour und Hennequin) basiert, an die Donau zu verlegen, macht die qualitätvolle Handlung nicht besser, widerspricht aber nachdrücklich dem Geist der Musik. Denn der Grazer Richard Heuberger nahm beim Komponieren einige kräftige Lungenzüge voll Pariser Luft und französischen Flairs, und seine allerletzte Absicht dürfte es gewesen sein, in „weanerischer Gemütlichkeit“ zu versumpern.

Abgesehen davon, dass es im späten 19. Jahrhundert noch gar nicht „den Opernball“ als festen Bestandteil des Wiener Ballkalenders gegeben hat (erst seit 1955), wäre es dort vermutlich auch weniger freizügig zugegangen als auf den Maskenbällen in der Pariser Oper. Und warum man bei Dommayers (in der Originalfassung: Duménils) mitten im Fasching, also im Spätwinter, auf der Dachterrasse zu frühstücken beliebt, können sie das Regietalent fragen, das Bühnenbild und Schauplatz wohl rund um die Idee hat bauen lassen, den frechen Marinekadetten beim Flirten mit dem Stubenmädchen zu einem Balanceakt auf der Brüstung über dem Abgrund zu nötigen.

Abseits dieser Regie-Mätzchen funktioniert die Verwechslungskomödie rund um den von der abgebrühten Margret Dommayer (in der Originalfassung: Marguérite Duménil) arrangierten Partnertausch recht gut. Am Ende tröstet man sich damit, dass „es“ im Chambre Separée unter dem Schutz der Maske ja doch nur beinahe passiert ist – und ganz genau möchte wohl keiner der Männer wissen, ob er jetzt mit der Frau des anderen, einer Halbseidenen vom „Theater“ oder nur mit dem Stubenmädchen….hat. Man geht auseinander, die Freundschaft der Paare ist bei realistischer Betrachtung wohl zerbrochen, Paul und Elise Aumann (im Original: Paul und Angèle Aubier) kehren desillusioniert zurück nach Amstetten (im Original: Orléans), die Ball-Kellner zählen ihren Schmattes, und der Marinekadett wird sich mit anderen Dienstboten zu trösten wissen.

Die in Baden gespielte Fassung hält sich sonst musikalisch und textlich ziemlich genau an die Bühnenfassung, die ich am 21. September 1988 in der Volksoper gesehen habe. Das heurige Badener Programmheft nennt Rudolf Bibl (der 1988 dirigiert hat) und den Badener Intendanten Robert Herzl (vom dem die 1988 gesehene Inszenierung stammte) als Bearbeiter. In Baden erlaubt man sich aber den mehr als schlechten Scherz, die berühmte Ouvertüre nach einem Drittel abzubrechen und als musikalische Pantomime und Entreactmusik an anderer Stelle zu verwurschten. Ein weiterer unnötiger Bruch. Dies ist umso bedauerlicher, als die Wirkung dieser Operette nicht nur auf schnell fließenden Ensembleszenen und einer sehr feinen Ziselierung der Musik beruht. Heuberger bedient sich auch einiger kleiner Leitmotive, die teils bereits in der Ouvertüre vorkommen, weshalb diese Musik einfach an die Stelle gehört, für die sie komponiert worden ist.

Womit wir bei den künstlerischen Akteurinnen und Akteuren wären. Oliver Ostermann vermochte als Dirigent der Partitur und dem Orchester keinen Glanz zu entlocken. Selten habe ich eine so uninspirierte, so hohl und zäh klingende Operettenaufführung gehört. Aus der guten Riege der Sängerinnen und Sänger ragte eindeutig Matjaz Stopinsek als Georg heraus, dessen vor allem ab dem 2. Akt ebenso kraftvoll wie makellos geführte Tenorstimme den dringenden Wunsch erweckt hat, den Sänger auch einmal in einer dramatischen Rolle zu hören. Alle anderen bewältigten ihre Rollen solide bis makellos.

Über die Inszenierung hätte ich vielleicht sogar Gutes geschrieben, hätten sich Volker Wahl und Michaela Ronzoni nicht die erwähnten halblustigen und überflüssigen Umstellungen einfallen lassen.

Kurzer Schlussapplaus.

Published in: on 13. August 2013 at 23:38  Kommentare deaktiviert für Ballverlust  
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Im Alptraumland der Operette


Operetten-Schnellkritik

Bühne Baden, Sommerarena, 4. August  2011

Franz von Suppé „Boccaccio“ (Friedrich/Zell/Genée [Libretto], Breznik/Schmidt/Herzl [Einrichtung] )

Inszenierung: Robert Herzl  (5. Aufführung in dieser Inszenierung)

Dirigent: Franz Josef Breznik

Lorenz, Herzog der Toscana  ….. René Rumpold

Giovanni Boccaccio ….. Christina Khosrowi

Pietro, Prinz von Palermo ….. Johann Winzer

Scalza, Barbier ….. Beppo Binder

Beatrice, seine Frau ….. Elisabeth Flechl

Lottheringhi, Fassbinder ….. Daniel Ohlenschläger

Isabella, seine Frau ….. Frauke Schäfer

Lambertuccio, Gewürzkrämer ….. Thomas Markus

Peronella, seine Frau ….. Regula Rosin

Fiametta, beider Ziehtochter ….. Jasmina Sakr

Leonetto, Student ….. Anton Graner

Podesta ….. Robert Sadil

Filippa ….. Kerstin Raunig

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Ich schreibe ja selten und eher ungern Verrisse. Aber das wird einer, schnallen sie sich also an, liebe Leserinnen und Leser!

Als ich gestern gegen Zehn nach Zehn aus der Badener Sommerarena gestolpert bin, war ich fast froh, einem Alptraum entkommen zu sein. Ich gebe zu, dass ich wegen vorangegangenen Pechs am Black-Jack-Tisch im Spielcasino nicht allerbester Laune war, aber das, diese Enttäuschung hatte ich mir bei einem meiner Lieblings-Bühnenwerke definitiv nicht verdient!

Eines von Franz von Suppés Bagatell- und Gelegenheitswerken heißt ja, glaube ich jedenfalls, „Der Teufel auf Erden“, und den gestrigen Luzifer („Pleased to meet you,  hope you guessed my name!“) kann man sogar beim Namen nennen: Er heißt Robert Herzl. Und die Freude an dieser Begegnung war endenwollend. Und ist Luzifer nicht eigentlich der Name des Engels, der einst der Lichtbringer Gottes war?

Der nunmehrige künstlerische Direktor des Badener Theaters beschränkt sich leider nicht aufs Licht sondern kann die Finger nicht vom Regiesessel lassen! Er zerhackte und zer-arrangierte eines der musikalischen Meisterwerke der Wiener Operette zu einer kleistrigen, absolut peinlichen Nummernrevue, für deren Regiequalitäten der Ausdruck „Stadttheaterniveau“ noch schmeichelhaft wäre. Das war Amateurliga. Jedes Finale ein hölzernes Schlusstableau mit der dramaturgischen Spannkraft einer Szene des „Villacher Faschings“ von anno 1972, gekrönt von sinnlosem Ballettgehopse unter dem Motto: „Hoch das Bein!“.

Ja, es stimmt schon, dass „Boccaccio“ heute besonders schwierig zu inszenieren ist, da der Handlungsfaden schwach ist, und die Situations- und Charakterkomik des Librettos in unserer Zeit nicht mehr automatisch funktioniert. Aber wenn man meint, dass das Stück heute nicht mehr trägt, dann soll man es halt nicht ansetzen, statt es mit einer stümperhaften Bearbeitung und einer Tölpelregie eiskalt hinzurichten.

Ich halte mich nicht damit auf, ins Detail zu gehen, aus dieser Katastrophe kommt keiner künstlerisch lebend raus!

Doch halt, eine hat sich eine Ausnahme verdient! Frau Christina Khosrowi, die Darstellerin des Titelhelden, überzeugte mich durch ihre sehr schöne, kraftvolle Mezzosopranstimme. Es entspricht der Originalfassung dieser Operette (immerhin diese Güte hatten Herr Herzl & Co. in ihrem Bearbeitungsgestümpere), den Dichter als Hosenrolle anzulegen, und irgendwie hatte Frau Khosrowis Stimme dazu das passende, leicht männlich klingende Timbre. Das bekannte Duett Boccaccio – Fiametta „Florenz hat schöne Frauen“ (hier in der Fassung mit italienischem Text in der zweiten Strophe) bekommt mit zwei Frauenstimmen einen ganz eigenen, besonders schönen Klang, der im Wien des späten 19. Jahrhunderts sicher auch leicht queer-erotischen Kitzel im Publikum auslöste. Wann durften sich sonst schon zwei Frauen auf der Bühne küssen?

Alle anderen können von Dank reden, dass sie nicht mit dem Regisseur zur Hölle fahren müssen! Kühler, seniorenclubmäßiger Schlussapplaus. Anscheinend war ich nicht die einzige, die schnell da raus wollte!

Published in: on 5. August 2011 at 12:10  Kommentare deaktiviert für Im Alptraumland der Operette  
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Autoprinz contra Kohlenkönig


Operetten-Schnellkritik

Bühne Baden, Sommerarena, 26. Juni 2011

Leo Fall „Die Dollarprinzessin“ (Willner/Grünbaum)

Regie: Wolfgang Dosch  (4. Aufführung in dieser Inszenierung)

Dirigent: Oliver Ostermann

John Couder ….. Fritz Hille

Alice Couder ….. Katja Reichert

Fredy Wehrburg ….. Sebastian Reinthaller

Daisy Gray ….. Laura Scherwitzl

Hans Freiherr von Schlick ….. Alec Otto

Olga ….. Ingrid Habermann

Tom, Couders Bruder ….. Walter Schwab

Dick, Couders Neffe ….. Ronny Hein

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Sommerliches Bühnengeschehen. Es ist eine eigenartige Sache, mit ungefähr 400 Menschen, vorwiegend älteren Semestern, in einem Freilufttheater (gut, zur Pause wurde das vorher geöffnete Glasdach geschlossen) zu sitzen und einem Stück Musiktheater zu lauschen, das in der nächsten oder übernächsten Generation schon zur Kategorie „verlorenes Kulturgut“ gehören könnte.

Leo Falls 1907 im Theater an der Wien ohne nachhaltigen Erfolg uraufgeführte (einige Quellen nennen auch das böse Wort „durchgefallene“) Operette „Die Dollarprinzessin“ spielt in Amerika und spielt mit dem Gegensätzen zwischen alter und neuer Welt. Gleichzeitig erleben wir, jedenfalls in dieser Inszenierung, auch einen mittelgroßen wirtschaftlichen Paradigmenwechsel. Das „alte Geld“, verkörpert durch den jovialen Kohlenbaron und Eisenbahnspekulanten John Couder und seinen Clan, macht Bankrott und wird durch das „neue Geld“, den smarten, frisch eingewanderten Bankierssohn Alfred „Fredy“ Wehrburg („ab jetzt heiße ich Fred W. Castle“) abgelöst, der in Autos und Öl „macht“.

Um den in einer Operette unabdingbaren versöhnlichen Schluss zu gewährleisten, heiratet der frischgebackene „Autoprinz“ die fallierte Dollarprinzessin Alice, die ihn zuvor noch als ihren Angestellten piesacken durfte, und die nun, sozusagen vom Panzer des Goldes befreit, zu ihren Gefühlen für den Ex-Untergebenen stehen kann. Und ein bisserl Geld bleibt dem „Kohlenkönig a.D.“ am Ende doch, da Olga, die überreife Varieté-Schönheit, die ihm Bruder & Neffe, beide Schmarotzer, als russische Gräfin und neue Ehefrau „verkauft“ haben, den Schlingeln ein paar der von Couder gestohlenen und in der Schweiz deponierten Millionen wieder abluchst, weil sie ihren „Johnny-Boy“ eben doch mag.

Wie viel davon tatsächlich die Herren Willner und Grünbaum geschrieben, und wie viel die ungenannt bleibenden Bearbeiter des Musikverlags oder der Bühne Baden gedichtet haben, bleibt im Dunkeln. Mein Operettenführer schildert die Handlung jedenfalls in einigen Punkten ein bisserl anders (so machen die Couders dort etwa nicht Bankrott und John Couder „erkauft“ sich am Schluss die Scheidung von der ihn schnell wieder nervenden Olga).

Das Libretto spielt zwar in Amerika, folgt aber prototypisch den Schemata  der Wiener silbernen Operettenära: seriöses Sängerpaar (Fredy/Alice), Buffopaar (Hans/Daisy) und die komische Alten (John/Olga) haben ihre Auftritte und Duette. Es gibt eine große und mehrere kleine Balletteinlagen und die obligate Trennung des „seriösen“ Liebespaares am Ende des zweiten Aktes. Büromädels klappern geschäftig auf alten Remington-Schreibmaschinen, wenn Alice im ersten Akt noch mit starker Hand die Geschicke des Couder-Trusts lenkt. Sonst aber bleibt die Musik mehr bei den obligaten Walzerklängen.

Die Aufführung kam nur an wenigen Stellen über Stadttheaterniveau – allerdings erstklassiges solches – hinaus. So z.B. beim großen Duett Fredy-Alice im zweiten Akt. Da blitzte plötzlich (fast) echtes Gefühl zwischen Sängerin und Sänger auf, und der Funken der Inspiration sprang auch auf den Dirigenten und das bis dahin eher uninspiriert fidelnde, tutende und trommelnde Orchester über.

Dem „seriösen“ Paar gebührt auch eindeutig der Löwenanteil am musikalischen Lorbeer. Mit Sebastian Reinthaller hat die Bühne Baden auch einen erstklassigen Tenor für ihre „Sommerstagione“ engagiert, der sich für die kleine Partie des Fredy hörbar nicht übermenschlich anstrengen musste, dafür aber umso launiger spielen konnte. Die aus der  Schweiz stammende Sopranistin Katja Reichert verlieh der Titelheldin makelloses musikalisches Profil, blieb aber spielerisch eine Spur blasser. Sie konnte dem Publikum charakterlich weder die arrogant-kühle Finanzmagnatin noch das gehemmt-neurotische Töchterlein, also die beiden Seiten ihrer Rolle, vermitteln. Alec Otto als Hans von Schlick litt paradoxerweise darunter, dass seine Stimme für eine Tenorbuffo-Rolle und die Größe der Bühne fast ein wenig zu kraftvoll und heldenhaft klingt. Als seine Partnerin machte Laura Scherwitzl in der Soubrettenrolle der Milliardärsnichte Daisy Gray gute stimmliche Figur. Als Komikerpaar durften Fritz Hille (ein, wie ich der Homepage des Theaters entnehmen konnte, „altes Schlachtross“ der Bühnen- und Fernsehunterhaltung in der DDR) und Ingrid Habermann für die obligate Dosis Seniorensex sorgen. Rätselhaft blieb freilich auch in Herrn Hilles Darstellung, wie und wann John Couder, dieser gut gelaunte Alte, der sein Hauspersonal hauptsächlich unter ruinierten europäischen Adeligen rekrutiert, vom Börsenhai zum Tanzbären mutieren konnte.

Maestro Oliver Ostermann leitete das Badener Theaterorchester mit eleganter Gestik und Autorität, dennoch konnte er, wie schon ansatzweise beschrieben, Leo Falls Partitur nur an wenigen Stellen mehr entlocken als sommerlich-seichtoperettiges Hm-ta-ta.

Womit auch schon alles über die Inszenierung von Wolfgang Dosch gesagt wäre. Sie strudelt sich zwar bemüht ab, ein wenig von Drama und Absurdität der aktuellen Finanzwelt in die vom Jahr 1900 in die 1920er-Jahre verpflanzte Handlung zu projizieren, bringt aber am Ende doch nur ein paar müde Extra-Witzchen von Fitnessstudios in der Chefetage und Schwarzgeldkonten in Liechtenstein über die Rampe.

Für einen getippten Extra-Vorhang bitte ich nun zum Schluss die Damen und Herren des Balletts (Choreografie: Mátyás Jurkovics) auf die Bühne!

Freundlicher, anhaltender Applaus, für ein Publikum aus älteren, gemessen-bürgerlichen Semestern war es fast die Extase. 😉

Es ist Sommer, Freundinnen und Freunde, Zeit, alle Dollars und €uros dieser Welt zu vergessen und bei leichter Musik zu entspannen!

Published in: on 28. Juni 2011 at 20:14  Kommentare deaktiviert für Autoprinz contra Kohlenkönig  
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Er bleibt wohl der arme Jonathan


Wenn man sich etwas besonders wünscht, dann wird meistens nichts draus!

Vor ein paar Wochen habe ich mir über Amazon.com eine CD-Gesamtaufnahme der Operette „Der arme Jonathan“ von Carl Millöcker bestellt. Die heimliche Liebe zum Genre und zum Komponisten kann ich an dieser Stelle wohl schwer leugnen.

„Der arme Jonathan“, uraufgeführt anno 1890 im Theater an der Wien, ist ein Spätwerk des Komponisten. Und es ist ein in mehrfacher Hinsicht ungewöhnliches Werk. Die Handlung wirkt wie ein moralisches „Besserungsstück“ Raimundscher Art im Mantel einer Wiener Operette. Die Schauplätze sind das Boston, New York und Monte Carlo von 1890, womit sich allerdings nur die Faustregel bestätigt, dass eine gute Wiener Operette überall spielen darf, bloß nicht in Wien. Einige Memorabilia und Neuerungen aus Millöckers Gegenwart blitzen textlich und musikalisch auf: Frauenemanzipation, Studentinnen, Telegraph, Phonograph und Dampflokomotive.

Ich hatte gehofft, etwas zu entdecken, das sich für eine Wiederentdeckung auf der Bühne eignen könnte. Denn die wenigen musikalischen Nummern, die ich aus dem Stück schon einmal gehört hatte, erschienen inspiriert und von höchster musikalischer Qualität zu sein.

Die Geschichte vom tollpatschigen Küchengehilfen Jonathan Tripp und dem misanthropischen Millionär Mr. Vandergold, die sich beide aus Lebensüberdruss erschießen möchten und statt dessen beschließen, ihre Rollen im Leben zu tauschen, hat tatsächlich einiges Potenzial. Natürlich wird Jonathan, der sozial wie geschäftlich überforderte „Prolet als Millionär“, so wie es sich im bürgerlichen Lach-Theater eben gehört, in seinem neuen Leben ebenso wenig glücklich wie der anscheinend mittelschwer manisch-depressive Vandergold, der feststellen muss, dass es am unteren Ende der Nahrungskette auch nicht aufrichtiger und menschlicher zugeht als an der Spitze der High Society. Am Ende sind beide irgendwie froh, ihr altes Leben zurückzubekommen.

Wie viele Werke des Genres leidet auch diese Operette aber an einem dünnen Libretto, sozusagen einem Zweiakter, den man krampfhaft zum Dreiakter ausgewalzt hat. Die Herrn Hugo Wittmann und Julius Bauer, die es zusammengestoppelt haben, sind weder vorher noch nachher durch einschlägige Ruhmestaten bekannt geworden.

Vielleicht lag es auch an der von mir erworbenen Aufnahme [1] (grauenhafte Tonqualität übrigens, möglicherweise ein illegaler Mitschnitt einer Aufführung) und der Bearbeitung, aber auch musikalisch vermag das Stück leider den entscheidenden Funken der Begeisterung bei der Zuhörerin nicht zu zünden. Während bei anderen Bühnenwerken der sogenannten leichten Muse die Musik ein langweilig-uninspiriertes Libretto zum Leben zu erwecken vermag, ist Carl Millöcker dieses Kunststück, das er in „Gasparone“ noch mit links vollführt hat, im „Armen Jonathan“ leider nicht gelungen. Auch die Musik macht aus den Schemenfiguren des Textbuchs leider keine Charaktere. Dazu kommen die üblichen Unsicherheiten über die Fassung (es gibt mehrere, wohl gutgemeinte, dramaturgische und muskalische Neu-Verwurstungen), sodass man am Ende nicht mehr weiß, ob das Stück nun eine Ouvertüre hat (die Aufnahme hat keine, es gibt aber zumindest eine, eventuell von fremder Hand arrangierte und recht zündende Potpourrifassung einer solchen), und ob Harriets Walzerlied „Ach wir armen Primadonnen!“, die wohl berühmteste Einzelnummer, überhaupt ein Original ist, da das musikalische Hauptmotiv daraus hier als Teil einer Ensembleszene auftaucht. Man wünscht sich eine Partitur zur Hand, doch ist vermutlich nicht einmal sicher, ob es eine mit dem Imprimatur des Komponisten versehene solche überhaupt gibt.

Es bleiben einige witzige Ensembleszenen im Gedächtnis: das Auftrittslied des Titelhelden, der Chor der streikenden Dienstboten im dritten Akt (mit dem Zitat von „Swanee River“ , offenbar der einzigen amerikanischen Melodie, die dem Komponisten geläufig war), die amüsante Szene von Quicklys reisender (und schwer indisponierter) Operntruppe, und das war’s dann auch mehr oder weniger schon.

Ich fürchte fast, dieser Jonathan wird „arm“ bleiben und den Weg zurück auf die Bühne leider nimmermehr finden!

[1] „Der Arme Jonathan“, Life-Mitschnitt (7. 11. 1980, Aufnahmeort nicht angegeben), Kölner Rundfunkorchester und -chor, Dirigent: Leopold Hager, Mitwirkende: Werner Hollweg (Vandergold), Rüdiger Wohlers (Jonathan Tripp), Benno Kusche (Tobias Quickly), Hildegarde Herschele (Harriet), Dora Koschat (Molly), erschienen auf Gala/IMC Music Ltd. Nr. GL 100.781 (die 2 CDs enthalten als Bonus Tracks noch einen sehr interessanten historischen Querschnitt des „Bettelstudenten“ aus Berlin von ca.  1930 mit Richard Tauber).

Published in: on 11. April 2011 at 18:15  Kommentare deaktiviert für Er bleibt wohl der arme Jonathan  
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