„Die Schlafwandler – Wie Europa in der Ersten Weltkrieg zog“ von Christopher Clark (übersetzt von Norbert Juraschitz), gelesen als Hardcover (3. Auflage 2013) aus dem Verlag DVA, ISBN 978-3-421-04359-7
Das für mich vielleicht Interessanteste an diesem Buch ist, wer darin – wie in fast allen Büchern über den Ausbruch des Ersten Weltkriegs – nicht vorkommt. Fast genau heute vor 100 Jahren, am 16. März 1914, setzte der Ministerpräsident der „im Reichsrat vertretenen Königreiche und Länder“ (Österreich, Cisleithanien) jenes innenpolitische Räderwerk in Gang, das in den Krieg führte. Karl Reichsgraf von Stürgkh, ein aristokratischer Grundbesitzer aus der Steiermark, ließ Kaiser Franz Joseph I. jene Entschließung unterschreiben, die faktisch dem seit 1867 währenden Experiment, die österreichischen Länder der Habsburgermonarchie nach demokratischen Regeln zu regieren, ein Ende setzte. Offiziell wurde das Abgeordnetenhaus des Reichsrats nur vertagt. Man kann aber davon ausgehen, dass Stürgkh nicht die Absicht hatte, die Volksvertreter, solange er im Amt war, je wieder zu versammeln.
Natürlich war Stürgkh klar, dass er sich auf Dauer bei diesen Verhältnissen schwer an der Macht halten konnte. Solange er das Vertrauen des Monarchen hatte, konnte er seine Kabinettskollegen, deren Unterschriften er unter dem Text neuer Notverordnungen brauchte, auf Linie halten. Aber da war die Frage, ob man ohne Gesetzesbeschluss des Reichsrats ein Budget erstellen konnte? Und was würde geschehen, wenn etwa die Sozialdemokratische Partei, deren politische Kampagnen für das allgemeine gleiche Wahlrecht in den Jahren 1905 bis 1907 wesentlich zu dessen Einführung beigetragen hatten, wiederum tausende Arbeiter zu Demonstrationen gegen die Diktatur des Ministerpräsidenten auf die Straße rief? Würde der greise Kaiser im Fall der Fälle das Standrecht verhängen und das Militär gegen das Volk schicken, so wie es der russische Zar im Jahr 1905 getan hatte?
Karl Reichsgraf von Stürgkh (1859 bis 1916) Quelle: Wikimedia Commons
Das waren Fragen, über die man im Wien des Frühjahrs 1914 mehr oder weniger laut diskutierte. Viel bezeichnender war aber, dass Stürgkhs Diktatur auf so wenig Widerstand stieß. Das 1907 und 1911 demokratisch gewählte Parlament hatte sich als Tollhaus erwiesen, als amorphe Männermasse ohne Richtung, ohne Disziplin, ohne fassbare Mehrheiten und ohne sozialen Zusammenhalt. Es tat sich durch andauernden Streit (bis zu Handgreiflichkeiten im Plenum), Schreiduelle, Filibusterreden und wechselseitige Obstruktionen (z.B. das berüchtigte „Pultdeckelkonzert“, bei dem man durch Klappern die Reden gegnerischer Mandatare störte) hervor. Man verstand verbreitet, dass ein Regierungschef auf solche Leute weder bauen, noch von ihnen abhängig sein wollte. Immer mehr verbreitete sich die Ansicht, dass ein Vielvölkerstaat wie Cisleithanien nicht demokratisch reformiert sondern bestenfalls, nach dem Rezept Bismarcks der Jahre 1864 bis 1871, durch Blut und Eisen zusammengeschweißt oder auch nur zusammengehalten werden konnte. Man hasste in Cisleithanien die Ungarn für ihren nationalen Egoismus, bewunderte sie aber gleichzeitig für die Effektivität, mit der sie die Interessen der magyarischen Eliten bündelten und durchsetzten.
So schwor man in Österreich, unbewusst und Stück für Stück, der Demokratie ab und begann, in einem Krieg eine praktikable Lösung der inneren und äußeren Probleme des Reichs zu sehen. Demokratie war keine Lösung. Sie hatte ihre Chance gehabt und versagt. Demokratie schien vielmehr das Problem zu sein. Die Lösung, das war in den Augen vieler eben „Blut und Eisen“, oder, wie es eine andere, vielfach variierte Phrase ausdrückte: „Lieber ehrenvoll im Kampf zu Grunde gehen als bei lebendigem Leib verfaulen!“
Auch Clark widmet Stürgkh nur ein paar Zeilen und der innenpolitischen Lage der Habsburgermonarchie eine oberflächliche Analyse. Ich war, wenn ich ehrlich bin, von seinem Buch, das mit vielen Vorschusslorbeeren auf mein Lesepult gekommen ist, leicht enttäuscht. Vielleicht nehme ich als Österreicherin Österreich auch zu wichtig, aber ich kann Clarks Befund als Historiker, dass die österreichisch-ungarische Monarchie nicht dem Tode geweiht war, und die Ursache des Ersten Weltkriegs in einer Kaskade strategischer Fehleinschätzungen im Viereck Deutschland-Russland-Großbritannien-Frankreich zu suchen ist, nicht ganz teilen. Aus meiner Sicht hatte Österreich-Ungarn den Finger am Abzug. Das Geflecht der Militärbündnisse war so straff gespannt, und das Räderwerk der strategischen (Angriffs-) Pläne so unerbittlich, dass man am Wiener Ballhausplatz die Folgen eines Angriffs auf Serbien durchaus berechnen konnte. Also haben wir da folgende Faktoren:
- Österreich-Ungarn als zerfallende Großmacht, davon Cisleithanien mit einer Regierung in einer schier ausweglosen innenpolitischen Sackgasse, ein Staatengebilde mit unübersehbaren suizidalen Neigungen.
- Die Armee der Habsburgermonarchie mit ihrer abgehobenen, sozialdarwinistisch geprägten Offizierskaste, deren Denkweise der Generalstabschef Franz Conrad von Hötzendorf, der Apologet eines „Präventivkriegs“, perfekt verkörperte.
- Eine Oberschicht, die insgesamt – aus der Erfahrung der Jahre 1864 bis 1871 heraus – dem Axiom anhing, dass Deutschland überlegen, allmächtig und unbesiegbar war, dass also ein Krieg an der Seite Deutschlands ein Krieg auf der Siegerseite sein musste.
Natürlich hätte Deutschland Österreich-Ungarn in den Arm fallen können. Natürlich hätte Russland Serbien seine Unterstützung versagen und es so zu einer Kapitulation vor der Habsburgermonarchie nötigen können. Natürlich hätten Frankreich und Großbritannien Russland in die gleiche Richtung drängen können. Doch warum? Der Punkt ist, dass wir über die Schrecken des Ersten Weltkriegs Bescheid wissen. 1914 konnten sich höchstens fantasiebegabte Militärs mit aktuellen Kriegserfahrungen (also etwa Militärbeobachter aus dem russisch-japanischen Krieg von 1904/1905) die Schrecken eines Grabenkriegs unter Einsatz moderner Waffen vorstellen. Alle anderen sahen einen Krieg als ehrenhaftes und mehr oder weniger unvermeidliches Ereignis, als eine Art von reinigendem Gewitter.
Und so geschah es.
Und Graf Stürgkh? Der saß mit am Tisch, als der gemeinsame Ministerrat der Habsburgermonarchie jeweils das Ultimatum und die Kriegserklärung an Serbien beriet und beschloss. Aber die Schuld am Krieg, die sucht Clark, wenn schon, dann eher beim k.u.k. Außenminister Graf Berchtold oder bei General Conrad, nicht jedoch bei der formellen Nummer Zwei der politischen Hierarchie des Habsburgerreiches. Ich wundere mich immer wieder, wie der Mann es geschafft hat, als Schatten durch die Weltgeschichte zu huschen! Seine Ende war spektakulär und seiner Rolle irgendwie angemessen. Am 21. Oktober 1916 streckte ihn der Linkssozialist Friedrich Adler, der ihm beim Mittagessen in einem belebten Restaurant in der Wiener Innenstadt aufgelauert hatte, mit mehreren Schüssen aus einem Revolver nieder. Kaiser Karl wagte es nicht mehr, Friedrich Adlers Todesurteil vollstrecken zu lassen. 1918 begnadigte er ihn sogar und ließ ihn aus dem Gefängnis entlassen.
Und, ja, lesen sie Clarks Buch, es ist nüchtern geschrieben und bietet doch ein paar neue Perspektiven. Und verzeihen sie ihm bzw. den deutschen Übersetzern kleine Fehler wie den Fluss „Leithe“ oder die mehrfache Verwechslung des britischen Ersten Seelords (1914 der ranghöchste Admiral und strategischer Führer der Royal Navy) mit dem Ersten Lord der Admiralität (politischer Chef der britischen Flottenverwaltung, 1914 ein Amt mit Kabinettsrang und von Winston Churchill bekleidet). Falls sie ein wirklich gutes und fesselndes Buch über die Vorgeschichte des Ersten Weltkriegs lesen wollen, greifen sie zu Robert K. Massies „Dreadnought“ (deutscher Titel: „Die Schalen des Zorns“), der die wichtigsten Wurzeln des Krieges in der Entfremdung zwischen Deutschland und Großbritannien und dem Flotten-Wettrüsten beider Nationen zwischen 1898 und 1914 erkennt.
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