Russlands Krieg gegen alles Queere


Russland hat also die Ukraine überfallen. Wer möchte, der findet dazu seit Tagen tausende und abertausende von Berichten und Kommentaren. Dazu allgemein nur ein Satz: Wer so eklatant und ungeniert wie der russische Präsident Putin gegen die einzige unbestritten universell geltende Regel des Völkerrechts, das allgemeine Gewaltverbot (Artikel 2 Nr. 4 der Charta der Vereinten Nationen, präsiser auch als „Verbot eines Angriffskriegs“ zu bezeichnen), verstößt, der darf sich nicht wundern, wenn er sich am Ende seiner Karriere wegen „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ auf der Anklagebank vor einem internationalen Gerichtshof wiederfinden sollte.

Die Motive des russischen Präsidenten sind es, die mich zum Thema bringen. Putin ist unter anderem besessen von der Vorstellung, „der Westen“ sei dekadent, verweichlicht – „verweiblicht“ könnte es auch treffen – und verdorben durch Homosexualität und die Aufweichung des binären Geschlechtssystems. Und er sei dabei, dieses „pervertierte Wertesystem“ auch Russland aufzuzwingen, um so das russische Volk aussterben zu lassen. Erkennen sie die Melodie? Genau dasselbe Liedchen pfeifen, teilweise leicht moduliert durch ein paar garstig-antisemitische Untertöne, auch einige neofaschistische bis rechtspopulistische Politiker (Frauen dürften eher wenige darunter sein).

Wenn die russische Regierung etwas von einer von der Ukraine ausgehenden Bedrohung schwadroniert, dann meint sie unter anderem auch genau das. Es ist auch ein Einsatz von Kampfpanzern und Bombern gegen gleichgeschlechtliche Eheschließungen und Personenstandsänderungen für Transmenschen, nicht mehr und nicht weniger. Die Absurdität und Irrationalität dieser Vorstellung macht diesen perversen Angriffskrieg erst in gewisser Weise logisch erklärbar, denn mit kalkulierter Machtpolitik zur Mehrung der Größe Russlands und des Reichtums seiner Eliten hat das alles nichts mehr zu tun. Russland wird aus diesem Krieg als Ganzes ärmer, zerrüttet und wirtschaftlich ruiniert hervorgehen, selbst wenn die russische Armee alle ihre militärischen Ziele erreichen sollte.

Dieser Krieg ist also nur mit tief sitzenden seelischen Wunden und Traumata des alternden Machos Wladimir Putin erklärbar, die sein Denken zum einen auf diese seltsame Besessenheit fokussiert und eingeengt haben – der andere Fokus ist ein selbstgestricktes Geschichtsbild, in dem die Existenz der Ukraine und ihres Volkes nur einen konstruierten Betrug am russischen Volk darstellt. Dieser Krieg ist aber auch das Ergebnis einer Wahnvorstellung von der Schwäche, Dekadenz und Wehrlosigkeit des Westens, der auf jeden Akt militärischer Gewalt bloß mit verbaler Entrüstung und zahnloser Empörung antworten werde. Das wird jedenfalls nicht geschehen.

Ein alternder Macho, der sich hoffnungslos in eine Sackgasse manövriert hat, aus der es keinen Ausweg ohne zumindest schweren Gesichtsverlust geben wird. Und der den Abzugsfinger am zweitgrößten Arsenal von Massenvernichtungswaffen auf diesem Planeten hat.

Wenn die Welt also demnächst im atomaren Feuer verglühen sollte, dann wird auch Putins pathologische Queerophobie eine der Ursachen gewesen sein.

Published in: on 6. März 2022 at 20:40  Kommentare deaktiviert für Russlands Krieg gegen alles Queere  
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Prinzessin Viktor II.


Roter Wahlkampf am Rande der Depression

Noch 18 Tage bis zu den Nationalratswahlen. Wahlkämpfe, in denen es nicht rund läuft, können Depressionen verursachen. Österreichs sozialdemokratischer Bundeskanzler Christian Kern weiß das, spürt das – und macht dann auch noch garstige Fehler.

Die SPÖ schlingert und droht zu kentern. Der Kanzler kämpft mit dem Rücken zur Wand. In den Umfragen liegt die Partei im günstigsten Fall derzeit weit hinter der konservativen ÖVP, alias „Liste Kurz“, und praktisch Kopf an Kopf mit den verhassten Rechtspopulisten der Freiheitlichen Partei (FPÖ). Sollte die SPÖ auf Platz 3 landen, was ich noch nicht wirklich glauben kann, dann ist Kern wohl nicht nur den Kanzlersessel los sondern wird auch um die Ehre kommen, die SPÖ, wie von ihm angekündigt, in die Opposition zu führen. Denn die Sozialdemokratische Parteitradition kennt kein Pardon mit Verlierern: die müssen gehen, müssen weg. Mehr als eine kurze Schamfrist wird da nicht gewährt, dann stehen die „Unangenehmen“, die Abgesandten der Parteigranden, unausweichlich mit der seidenen Schnur vor der Tür des Vorsitzenden.

Das Prinzessinnen-Papier

Und jetzt noch das! Der Kanzler hat sich in eine öffentliche Fehde mit Wolfgang Fellner, dem Herausgeber und Verleger der Gratis-Massenzeitung „Österreich“ eingelassen. Der hat vor ein paar Tagen genüsslich ein mehreren Medien zugespieltes internes Papier aus der SPÖ-Zentrale, eine für den Kanzler höchst peinliche Analyse seiner Schwächen, veröffentlicht. Darin wird Kern als eitle „Prinzessin“ charakterisiert und ihm ein „Glaskinn“ bescheinigt. Bei Fellner natürlich mit Fotomontage, „Kern-in-drag“ sozusagen, als Prinzessin. Der Kanzler hat sofort einen Auftritt in Fellners Fernsehsender OE24.tv abgesagt, alle Wahlkampfinserate der SPÖ in „Österreich“ gestrichen und in den sozialen Medien gegen das Blatt gedonnert. Wolfgang Fellner prackt da gleich den scharfen Ball volley übers Netz zurück und kommentiert heute, mehr habe es nicht gebraucht, um die Wahrheit des Kanzler-Psychogramms („Mimose“) zu bestätigen. Außenminister Kurz, der laut Umfragen in Führung liegende Rivale um die Kanzlerschaft, wird dagegen ein paar Zeilen weiter für seine Fairness gelobt. Jede Wienerin, jeder Wiener konnte das heute auf dem Weg zur Arbeit in Fellners bei jedem U-Bahn-Aufgang aufliegender Gratis-Gazette lesen.

Nun ist Wolfgang Fellner eine zwiespältige Erscheinung der Medienwelt. Sein Geschäftsmodell war bisher die symbiotische Koexistenz mit den politisch Mächtigen. Er würde nie aus politischer Überzeugung Stimmung gegen jemanden machen. „Ich bin nett zu euch allen (solange ihr nicht grad einen Riesenblödsinn gemacht habt), dafür füttert ihr mich und meine Medien mit Werbeaufträgen“, so lautete sein ungeschriebenes Credo. Ein sicher lukratives Credo. Fellner ist ein Grenzgänger in Sachen journalistischer Ethik. In seinen Medien wird die Grenzlinie zwischen Inserat und Artikel, zwischen Werbung und Beitrag immer nur knapp diesseits der medienrechtlichen Grenze gezogen. Schon vor dem jüngsten Eklat hatte sich innerhalb der SPÖ von links gewisser Druck aufgebaut, Fellner und andere Zaren des Boulevards nicht mehr so ungeniert zu füttern. Kann sein, dass die Watschen für den Kanzler auch als Warnung gedacht war, nicht auf solche Stimmen zu hören.

Kern gegen *Österreich*

Doch jetzt ist die Sache entgleist. Christian Kern hat im für ihn und die Partei ungünstigsten Moment ohne Not – die Echtheit des „Prinzessinnen-Papiers“ wird von niemand ernsthaft in Zweifel gezogen – eine gefährliche Front eröffnet. Michael Völker bringt es in einem Kommentar im „Standard“ vom 26. September 2017 auf den Punkt: „Es hätte tausend gute Gründe gegeben, „Österreich“ endlich jene Inserate zu streichen, mit denen die Republik und die SPÖ dieses Krawallblatt seit Jahr und Tag auf Kosten der Allgemeinheit mit Steuergeldern durchfüttern. Die aktuelle Berichterstattung über Kanzler Christian Kern ist kein solcher Grund. Die Hetze gegen Ausländer und Flüchtlinge, die erfundenen Interviews, all das hätte längst zu einer Ächtung des Gratisblattes führen müssen. Aber die Politik glaubte, sich mit finanziellen Zuwendungen die Gunst des Boulevards (nicht nur von „Österreich“) erkaufen zu können.“

Nun muss sie, muss der Kanzler den Zorn des Boulevards fürchten. Ich glaube ja nicht, dass Wolfgang Fellner mit gezielten Medien-Schüssen auf Christian Kern große Stimmenanteile verschieben kann. Aber es geht hier auch nicht um große tektonische Bewegungen. Es geht um die Stimmung, um das Ansehen, um positive mediale Präsenz. Ein bis drei Prozent können in 18 Tagen den Unterschied zwischen Platz 2 und Platz 3 bedeuten.

Christian Kern könnte also das Schicksal Viktor Klimas erleiden. Als Quereinsteiger und ehemaliger Industriemanager 1997 an die Spitze der SPÖ und ins Bundeskanzleramt geholt, stürzte Letzterer bei den Nationalratswahlen am 3. Oktober 1999 bitter ab, wurde anschließend bei den Regierungsverhandlungen von Wolfgang Schüssel überdribbelt, trat zurück und wanderte nach Argentinien aus, wo er bis 2012 für den VW-Konzern arbeitete.

Noch ein bisserl mehr Pech, und Christian Kern findet sich, als Farce nach der Tragödie im Sinne der Geschichtsphilosophie des Karl Marx, vor seinem Abgang ins Archiv der Geschichte als Figur bei den Faschingsumzügen 2018 wieder: als Prinzessin Viktor II.

Published in: on 26. September 2017 at 23:28  Kommentare deaktiviert für Prinzessin Viktor II.  
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Siebzig Jahre Freiheit für Hasen und Füchse


Und ein alter Mann, halb opportunistischer Fuchs, halb hakenschlagender Hase, trat hin vor das verzagte Volk und ließ verkünden:

  • Die demokratische Republik Österreich ist wiederhergestellt und im Geiste der Verfassung von 1920 einzurichten.
  • Der im Jahre 1938 dem österreichischen Volke aufgezwungene Anschluss ist null und nichtig.

So könnte eine Beschreibung der Ereignisse lauten, die man die Unabhängigkeitserklärung der zweiten österreichischen Republik nennt, deren Artikel I und II oben zitiert werden. Der Hasenfuchs war natürlich Karl Renner, das Datum der 27. April 1945, und der zweite Weltkrieg war noch nicht ganz zu Ende.

Das Gründungsdokument der Zweiten Republik ist weder schön noch von welthistorischer Bedeutung. Es ist, samt Präambel, ein langatmiges, weitschweifiges Instrument der Rechtfertigung. Gewürzt mit einer Prise Selbstmitleid und Perfidie, wenn man bedenkt, dass der mehrfache nationalsozialistische Völkermord darin nicht einmal in einem Nebensatz thematisiert wird.

Aber die Unabhängigkeitserklärung ist das, was damals notwendig war. Renner wusste das. Er traf den Ton. In dem Chaos, das dem untergehenden Nazi-Reich auf dem Fuß folgte, war kein Platz für eine Auseinandersetzung mit Schuld und Sühne. Später vielleicht, aber wann wäre rechtzeitig-später gewesen?

Und die Menschen freuten sich. Fuchs und Hase hatten, zwischen Hunger und Ruinen, den Optimismus mitgebracht.

Alles Gute, liebe Republik, die Du jeden Monat meine Rechnungen bezahlst!

 

Published in: on 27. April 2015 at 22:34  Kommentare deaktiviert für Siebzig Jahre Freiheit für Hasen und Füchse  
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Schläfer, Verblendete und ein Drahtzieher, der im Schatten bleibt


„Die Schlafwandler – Wie Europa in der Ersten Weltkrieg zog“ von Christopher Clark (übersetzt von Norbert Juraschitz), gelesen als Hardcover (3. Auflage 2013) aus dem Verlag DVA, ISBN 978-3-421-04359-7

Das für mich vielleicht Interessanteste an diesem Buch ist, wer darin – wie in fast allen Büchern über den Ausbruch des Ersten Weltkriegs – nicht vorkommt. Fast genau heute vor 100 Jahren, am 16. März 1914, setzte der Ministerpräsident der „im Reichsrat vertretenen Königreiche und Länder“ (Österreich, Cisleithanien) jenes innenpolitische Räderwerk in Gang, das in den Krieg führte. Karl Reichsgraf von Stürgkh, ein aristokratischer Grundbesitzer aus der Steiermark, ließ Kaiser Franz Joseph I. jene Entschließung unterschreiben, die faktisch dem seit 1867 währenden Experiment, die österreichischen Länder der Habsburgermonarchie nach demokratischen Regeln zu regieren, ein Ende setzte. Offiziell wurde das Abgeordnetenhaus des Reichsrats nur vertagt. Man kann aber davon ausgehen, dass Stürgkh nicht die Absicht hatte, die Volksvertreter, solange er im Amt war, je wieder zu versammeln.

Natürlich war Stürgkh klar, dass er sich auf Dauer bei diesen Verhältnissen schwer an der Macht halten konnte. Solange er das Vertrauen des Monarchen hatte, konnte er seine Kabinettskollegen, deren Unterschriften er unter dem Text neuer Notverordnungen brauchte, auf Linie halten. Aber da war die Frage, ob man ohne Gesetzesbeschluss des Reichsrats ein Budget erstellen konnte? Und was würde geschehen, wenn etwa die Sozialdemokratische Partei, deren politische Kampagnen für das allgemeine gleiche Wahlrecht in den Jahren 1905 bis 1907 wesentlich zu dessen Einführung beigetragen hatten, wiederum tausende Arbeiter zu Demonstrationen gegen die Diktatur des Ministerpräsidenten auf die Straße rief? Würde der greise Kaiser im Fall der Fälle das Standrecht verhängen und das Militär gegen das Volk schicken, so wie es der russische Zar im Jahr 1905 getan hatte?

Karl Reichsgraf von Stürgkh (1859 bis 1916) Quelle: Wikimedia Commons

Karl Reichsgraf von Stürgkh (1859 bis 1916) Quelle: Wikimedia Commons

Das waren Fragen, über die man im Wien des Frühjahrs 1914 mehr oder weniger laut diskutierte. Viel bezeichnender war aber, dass Stürgkhs Diktatur auf so wenig Widerstand stieß. Das 1907 und 1911 demokratisch gewählte Parlament hatte sich als Tollhaus erwiesen, als amorphe Männermasse ohne Richtung, ohne Disziplin, ohne fassbare Mehrheiten und ohne sozialen Zusammenhalt. Es tat sich durch andauernden Streit (bis zu Handgreiflichkeiten im Plenum), Schreiduelle, Filibusterreden und wechselseitige Obstruktionen (z.B. das berüchtigte „Pultdeckelkonzert“, bei dem man durch Klappern die Reden gegnerischer Mandatare störte)  hervor. Man verstand verbreitet, dass ein Regierungschef auf solche Leute weder bauen, noch von ihnen abhängig sein wollte.  Immer mehr verbreitete sich die Ansicht, dass ein Vielvölkerstaat wie Cisleithanien nicht demokratisch reformiert sondern bestenfalls, nach dem Rezept Bismarcks der Jahre 1864 bis 1871, durch Blut und Eisen zusammengeschweißt oder auch nur zusammengehalten werden konnte. Man hasste in Cisleithanien die Ungarn für ihren nationalen Egoismus, bewunderte sie aber gleichzeitig für die Effektivität,  mit der sie die Interessen der magyarischen Eliten bündelten und durchsetzten.

So schwor man in Österreich, unbewusst und Stück für Stück, der Demokratie ab und begann, in einem Krieg eine praktikable Lösung der inneren und äußeren Probleme des Reichs zu sehen. Demokratie war keine Lösung. Sie hatte ihre Chance gehabt und versagt. Demokratie schien vielmehr das Problem zu sein. Die Lösung, das war in den Augen vieler eben „Blut und Eisen“, oder, wie es eine andere, vielfach variierte Phrase ausdrückte: „Lieber ehrenvoll im Kampf zu Grunde gehen als bei lebendigem Leib verfaulen!“

Auch Clark widmet Stürgkh nur ein paar Zeilen und der innenpolitischen Lage der Habsburgermonarchie eine oberflächliche Analyse. Ich war, wenn ich ehrlich bin, von seinem Buch, das mit vielen Vorschusslorbeeren auf mein Lesepult gekommen ist, leicht enttäuscht. Vielleicht nehme ich als Österreicherin Österreich auch zu wichtig, aber ich kann Clarks Befund als Historiker, dass die österreichisch-ungarische Monarchie nicht dem Tode geweiht war, und die Ursache des Ersten Weltkriegs in einer Kaskade strategischer Fehleinschätzungen im Viereck Deutschland-Russland-Großbritannien-Frankreich zu suchen ist, nicht ganz teilen. Aus meiner Sicht hatte Österreich-Ungarn den Finger am Abzug. Das Geflecht der Militärbündnisse war so straff gespannt, und das Räderwerk der strategischen (Angriffs-) Pläne so unerbittlich, dass man am Wiener Ballhausplatz die Folgen eines Angriffs auf Serbien durchaus berechnen konnte. Also haben wir da folgende Faktoren:

  1. Österreich-Ungarn als zerfallende Großmacht, davon Cisleithanien mit einer Regierung in einer schier ausweglosen innenpolitischen Sackgasse, ein Staatengebilde mit unübersehbaren suizidalen Neigungen.
  2. Die Armee der Habsburgermonarchie mit ihrer abgehobenen, sozialdarwinistisch geprägten Offizierskaste, deren Denkweise der Generalstabschef Franz Conrad von Hötzendorf, der Apologet eines „Präventivkriegs“, perfekt verkörperte.
  3. Eine Oberschicht, die insgesamt – aus der Erfahrung der Jahre 1864 bis 1871 heraus – dem Axiom anhing, dass Deutschland überlegen, allmächtig und unbesiegbar war, dass also ein Krieg an der Seite Deutschlands ein Krieg auf der Siegerseite sein musste.

Natürlich hätte Deutschland Österreich-Ungarn in den Arm fallen können. Natürlich hätte Russland Serbien seine Unterstützung versagen und es so zu einer Kapitulation vor der Habsburgermonarchie nötigen können. Natürlich hätten Frankreich und Großbritannien Russland in die gleiche Richtung drängen können. Doch warum? Der Punkt ist, dass wir über die Schrecken des Ersten Weltkriegs Bescheid wissen. 1914 konnten sich höchstens fantasiebegabte Militärs mit aktuellen Kriegserfahrungen (also etwa Militärbeobachter aus dem russisch-japanischen Krieg von 1904/1905) die Schrecken eines Grabenkriegs unter Einsatz moderner Waffen vorstellen. Alle anderen sahen einen Krieg als ehrenhaftes und mehr oder weniger unvermeidliches Ereignis, als eine Art von reinigendem Gewitter.

Und so geschah es.

Und Graf Stürgkh? Der saß mit am Tisch, als der gemeinsame Ministerrat der Habsburgermonarchie jeweils das Ultimatum und die Kriegserklärung an Serbien beriet und beschloss. Aber die Schuld am Krieg, die sucht Clark, wenn schon, dann eher beim k.u.k. Außenminister Graf Berchtold oder bei General Conrad, nicht jedoch bei der formellen Nummer Zwei der politischen Hierarchie des Habsburgerreiches. Ich wundere mich immer wieder, wie der Mann es geschafft hat, als Schatten durch die Weltgeschichte zu huschen! Seine Ende war spektakulär und seiner Rolle irgendwie angemessen. Am 21. Oktober 1916 streckte ihn der Linkssozialist Friedrich Adler, der ihm beim Mittagessen in einem belebten Restaurant in der Wiener Innenstadt aufgelauert hatte, mit mehreren Schüssen aus einem Revolver nieder. Kaiser Karl wagte es nicht mehr, Friedrich Adlers Todesurteil vollstrecken zu lassen. 1918 begnadigte er ihn sogar und ließ ihn aus dem Gefängnis entlassen.

Und, ja, lesen sie Clarks Buch, es ist nüchtern geschrieben und bietet doch ein paar neue Perspektiven. Und verzeihen sie ihm bzw. den deutschen Übersetzern kleine Fehler wie den Fluss „Leithe“ oder die mehrfache Verwechslung des britischen Ersten Seelords (1914 der ranghöchste Admiral und strategischer Führer der Royal Navy) mit dem Ersten Lord der Admiralität (politischer Chef der britischen Flottenverwaltung, 1914 ein Amt mit Kabinettsrang und von Winston Churchill bekleidet). Falls sie ein wirklich gutes und fesselndes Buch über die Vorgeschichte des Ersten Weltkriegs lesen wollen, greifen sie zu Robert K. Massies „Dreadnought“ (deutscher Titel: „Die Schalen des Zorns“), der die wichtigsten Wurzeln des Krieges in der Entfremdung zwischen Deutschland und Großbritannien und dem Flotten-Wettrüsten beider Nationen zwischen 1898 und 1914 erkennt.

Published in: on 6. April 2014 at 21:58  Kommentare deaktiviert für Schläfer, Verblendete und ein Drahtzieher, der im Schatten bleibt  
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Das Jahrhundert aus Dampf, Stahl und Strom


Am Neujahrsmorgen 2014 geschrieben.

2014 werden wir des Ausbruchs des Ersten Weltkriegs im Sommer 1914 gedenken. In diesem Jahr endete, geistig und als Geschichtsepoche, das 19. Jahrhundert.

Begonnen hat es, so jedenfalls meine Lesart, mit dem Wiener Kongress 1815. Wo die Mächtigen Europas das Fundament für eine feste, konservative Weltordnung legen wollten. Daraus wurde bekanntlich nichts.

Das 19. Jahrhundert ist für mich die faszinierendste Geschichtsepoche. Alle Probleme unserer Zeit wurzeln in ihr. Die Menschen des 19. Jahrhunderts erfanden die technologische Hybris, den Fetisch beständigen Wachstums und die Möglichkeit der haltlosen Ausbeutung der fossilen Energiereserven des Planeten Erde. Sie erforschten die Natur und überwanden Gott und sämtliche metaphysischen Schöpfungsmythen durch die Erkenntnis, dass der Affe nicht neben dem Menschen geschaffen wurde sondern in einer genetischen Linie vor dem Menschen liegt. Aus der Evolutionstheorie folgte der grausame Fehlschluss, dass das Stärkere immer das Bessere sein muss und jeder Verlierer, egal ob Art, Klasse, Nation oder Individuum, nach den Naturgesetzen zum Untergang verdammt ist und kein Erbarmen verdient. Hier finden wir die neuen geistigen Grundlagen oder Wurzeln von Kolonialismus und Rassismus.

Es ist der Dampf, der jenes Jahrhundert kennzeichnet. Unzählige Schlote und Rauchfahnen, Eisenbahnen und Dampfschiffe, das beständige Pochen immer größerer und kraftvollerer Maschinen, funkenumloderte Hochöfen, kreisende Räder, tickende Telegrafen, am Ende dann die unsichtbare, geheimnisvoll summende Macht der Elektrizität und der  universell einsetzbare Verbrennungsmotor.

Dazu ein Tsunami des Wissens und der Information, Telegraf, Telefon, täglich gedruckte Zeitungen, Bücher in gewaltiger Auflage.

Letztlich wurden alle Chancen vergeben und alle Risiken verwirklicht. Rückblickend betrachtet wurden im 19. Jahrhundert die Schwerter geschmiedet, mit denen sich die Menschheit seit 100 Jahren selbst verstümmelt.

Am Beginn das 20. Jahrhunderts, als viele meinten, dass die Mühen der Ebene überwunden waren, folgte dann der Fall – und mit ihm eine neue Epoche.

Sie sind großteils mit Optimismus erwacht und an ihr Tagewerk gegangen, die Menschen des 1. Jänner 1914.

Mit welchen Gefühlen erwachen wir heute?

Prosit 2014!

Published in: on 1. Januar 2014 at 10:13  Comments (1)  
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Als England Republik war


England, der Hort von Monarchie und Aristokratie, „God save the Queen“ und „For King and Country!“, Parlamentseröffnung und Thronrede, Ritterschlag, Kronen, Diademe und auf viele Zeitgenoss/inn/en leicht operettenhaft wirkendes Zeremoniell.

Mitten im Nostalgiebad der Zeremonien des Habsburgerbegräbnisses sollte man kurz der Tatsache gedenken, dass sich die Engländer als erstes Volk Europas gut 150 Jahre vor der großen französischen Revolution mit Gewalt ihres Monarchen entledigten und für eine kurze Periode von rund elf Jahren versuchten, unter einer republikanischen Verfassung zu leben.

Wie es dazu kam, und warum die englische Republik scheiterte, gehört zu den spannendsten Augenblicken der europäischen Geschichte!

1642 trennten sich der katholische König von England und Schottland, Charles I. Stuart, und das mehrheitlich protestantisch gesinnte englische Parlament nach jahrelangem Tauziehen endgültig im Streit. Der König, überzeugter Legitimist und als solcher Anhänger absoluter monarchischer Regierungsgewalt, wollte die lästigen Volks- oder besser Ständevertreter mit ihrem Kontrollgriff auf seine Steuerkasse loswerden. Beide Seiten rüsteten zum blutigen Bürgerkrieg (1642 bis 1648), in dem der König den Kürzeren zog. Der versnobte Charles und seine Generäle aus dem „Kavaliersstand“ hatten drei Faktoren unterschätzt:

  1. Die lange, kontinuierlich entwickelte Tradition des englischen ständischen Parlamentarismus, der in der aufsteigenden bürgerlichen Kaufmanns- und Unternehmerklasse einen bedingungslosen – und vor allem finanzkräftigen! – Verbündeten fand;
  2. die immer noch wirksame Sprengkraft der Reformation, die im fundamentalistisch-fanatischen „Puritanismus“ gerade jetzt erst in England ihre stärkste Wirkung entfaltete und im katholischen Stuartkönig ihren idealen Gegner fand, der sich fabelhaft dämonisieren ließ, und schließlich
  3. das militärische Talent der auf die Seite der „Roundheads“ (etwa „Gscherten“) der Parlamentspartei getretenen Adeligen, namentlich Thomas Fairfax und Oliver Cromwell, die mit dem Geld der Londoner City eine „New Model Army“ aus dem Boden stampften, deren Regimenter, insbesondere die „Ironsides“, die gepanzerten Kürassiere, die Söldner des Königs bald von einem Schlachtfeld nach dem anderen fegten.

1648 kapitulierten die letzten Royalisten, das Parlament, de facto nur mehr aus dem House of Commons bestehend (und bereits von königstreuen Abgeordneten gesäubert), machte dem in seine Gefangenschaft geratenen König wegen dessen Verfassungsbrüchen und Auslandskontakten (zu Verwandten in Frankreich, Spanien und den Niederlanden, also historischen Gegnern Englands) einen kurzen (Hochverrats-) Prozess und ließ den Monarchen von Gottes Gnaden am 30. Jänner 1649 vor seinem eigenen Whitehall-Palast in London öffentlich enthaupten. Ein historischer Akt ohne Präzedenz in der Welt des Feudalismus. Dass Könige von der Hand adeliger Rivalen oder ausländischer Gegner gefallen waren, hatte man schon gesehen. Nicht aber, dass Vertreter der unteren Stände aus eigener Macht den Stab über einen „Herrscher von Gottes Gnaden“ gebrochen hatten!

Die Führer des Parlaments machten in puritanischer Konsequenz nun auch gleich Nägel mit Köpfen: die Monarchie wurde abgeschafft, das Parlament erklärte England unter dem Namen „Commonwealth of England“ zur Republik.

Nur leider funktionierte diese Republik nicht. Das Parlament konnte nicht selbst regieren, der von ihm als kollektive Regierung eingesetzte Staatsrat erwies sich als zu schwach. Das englische Volk hatte von den frömmelnden Puritanern, die Sport, Spiele, Tanz und Theater zur Ketzerei erklärten, auch bald genug. Die „Pfeffersäcke“ der City wiederum begannen die radikal-sozialreformerischen Ideen mancher Parlamentarier zu fürchten und bangten um die internationale Machtposition Englands.

Oliver Cromwell 1649 als Feldherr des Parlaments (Ölgemälde von Robert Walker, National Portrait Gallery, London; Bildquelle: Wikimedia)Oliver Cromwell 1649 als Feldherr des Parlaments (Ölgemälde von Robert Walker, National Portrait Gallery, London; Bildquelle: Wikimedia)

Oliver Cromwell 1649 als Feldherr des Parlaments (Ölgemälde von Robert Walker, National Portrait Gallery, London; Bildquelle: Wikimedia)

So fiel das Land in die Hände der Militärs. General Oliver Cromwell ergriff die Macht und regiert von 1653 bis zu seinem Tod am 3. September 1658 als „Lordprotektor von England, Schottland und Irland“ erstmals ein gewaltsam vereinigtes „Groß-Britannien“ mit eiserner Faust. Aufstände in Wales, Irland und Schottland ließ er von der Armee erbarmungslos niedermetzeln, gegen die Niederlande führte er im Interesse der City-Kaufleute einen erfolgreichen Seekrieg.

Cromwell lehnte die ihm vom Parlament angetragene Königskrone jedoch ab und unternahm statt dessen den seltsamen Versuch, einfach Amt und Titel des Lordprotektors seinem Sohn Richard zu vererben. Doch diesem waren die Schuhe seines titanischen Vaters weit zu groß. Richards Rücktritt nach kaum einem halben Jahr im Amt hinterließ Großbritannien führungslos, neuerlich drohte Chaos, und neuerlich klärte das Militär die Verhältnisse. General Monk sicherte (gegen die Zusicherung einer Amnestie und einer schönen Pension) mit seinen Truppen die Rückkehr des Prince of Wales (und bereits gekrönten Königs von Schottland) nach England, das Parlament warf sich vor dem Sohn des einst auf seinen Befehl geköpften auf den Bauch, und Charles II. Stuart hielt am 29. Mai 1660 seinen triumphalen Einzug in London. England war wieder Monarchie, und Oliver Cromwells Leichnam wurde aus seinem Grab in der Westminster Abbey geholt, auf Befehl des Königs postum symbolisch geköpft, zur Schau gestellt und dann auf dem Armsünderacker verscharrt.

Bis heute scheint vielen Briten die kurze republikanische Periode ihrer Geschichte irgendwie peinlich und kaum der Erwähnung wert zu sein, obwohl Cromwell bedeutende Fakten für die Geschichte Großbritanniens geschaffen hat (neben der Union der drei Reiche vor allem den durch die „Navigationsakte“ verankerten Primat des britischen Seehandels und der britischen Seemacht).

Die Republik, „das Commonwealth“, hat bis heute im Bewusstsein der Allgemeinheit den grauslichen Beigeschmack von Bürgerkrieg, Blut, Gewalt und Chaos, während die Monarchie für Einigkeit, Stolz und Patriotismus steht. Hier hat die royalistische Propaganda ganze Arbeit geleistet, selbst über den zweiten Sturz des Hauses Stuart im Jahre 1689 hinaus. In den folgenden Jahrhunderten wuchsen Monarchie und Demokratie symbiotisch zusammen. Die Abschaffung des absoluten Vetorechts des Oberhauses im Jahre 1911 (unter dem Eindruck der massiven „Drohung“ der liberalen Regierung Asquith, dem König einen „Peersschub“, die massenweise Erhebung linker und liberaler Persönlichkeiten in den Hochadel, vorzuschlagen, stimmten die Lords ihrer eigenen Entmachtung zu) markiert aus meiner Sicht den „Point of no return“, das unumkehrbare Ende der Dominanz von Königin oder König und Hochadel.

Während in Österreich Monarchisten und Legitimisten heute bloß ein nostalgischer Farbtupfen sind, bilden Großbritanniens Republikaner immerhin eine ernsthafte, wenn auch nur marginale politische Größe.

Published in: on 16. Juli 2011 at 10:23  Kommentare deaktiviert für Als England Republik war  
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