Flucht! – Migration – Invasion?


Während ich dies schreibe, bestätigen sich Medienberichte, wonach die ungarische Regierung, trotz des Baus eines Zaunes an der Grenze zu Serbien, vor dem Ansturm von Flüchtlingen kapituliert und den Menschen, die den Budapester Ostbahnhof belagtert haben, das Besteigen von Zügen in Richtung Österreich und Deutschland gestattet hat. „Hunderte“ – gezählt hat sie keiner – sind heute allein per Bahn in Wien angekommen.

Dazu die aktuelle Meldung der ÖBB (31. August 2015, früher Abend):

„Wegen überfüllter Züge aus Budapest ist der Verkehr zwischen Wien und Budapest über Hegyeshalom derzeit nur sehr eingeschränkt möglich. Der RJ 64 ist ca. 200 Minuten verspätet und endet in Wien Westbf, der RJ 66 ist ca. 90 Minuten verspätet und fährt bis Wien Westbf. RJ 68 ist derzeit unbestimmt verspätet und endet ebenfalls in Wien Westbf. Von Wien nach München werden Ersatzzüge fahrplanmässig geführt. Die Züge RJ 63 und RJ 65 fahren nur bis Bruck a. d. Leitha. Weiterbeförderung mit den nächsten fahrplanmässigen Zügen.“

Es ist allerdings nicht klar, wann wieder ein fahrplanmäßiger Zugverkehr über die Grenze nach Ungarn möglich sein wird.

Obwohl all diese Menschen nach den Buchstaben des Gesetzes eigentlich gar nicht reisen dürften. Die wenigsten dürften (noch) einen Pass und keiner ein Visum für ein Land des Schengen-Raumes besitzen.

Was ist das nun? Eine Welle Hilfsbedürftiger ist es, solange „diese armen Menschen“ demütig gebeugt um Hilfe bitten und nicht mit uns Eingesessenen um Arbeitsplatz, Wohnung oder einen Platz am Sozialtropf (oder -topf) konkurrieren. Wenn aber einmal hunderte (tausende?) Menschen durch ihre bloße Masse und lautes Schreien („Lasst uns nach Deutschland!“ sollen sie in Budapest gerufen haben) Regierungen zum Nachgeben zwingen, dann ist das nicht mehr bloß eine Manifestation des Elends und des Bedürfnisses nach Schutz vor Verfolgung. Da ist Einwanderung erzwungen worden.

Denn wer in Ungarn würde all die Männer und ihre Familien vor dem Budapester Ostbahnhof denn töten, in eine Bürgerkriegsarmee zwingen, verhaften, foltern oder sonstwie quälen? Niemand. Das Schlimmste, was denen droht, wäre, kein Gratisessen und keinen Schlafplatz zu bekommen, und irgendwann dann der Rückschub nach Serbien, Mazedonien oder Griechenland. Um nach dem Gesetz im ersten sicheren Land um Asyl anzusuchen.

Dann ist es eine Invasion? Der Bruch von Gesetzen, die das Recht zum Aufenthalt regeln, das erzwungene, fast schon gewaltsame Überschreiten von Staatsgrenzen, um Aufenthalt, Arbeit und soziale Versorgung im Land der eigenen Wahl zu erzwingen, das alles ist eine direkte Herausforderung staatlicher Autorität. Und da wird es heikel. Denn wenn der Staat nicht mehr in der Lage ist, zu bestimmen, wer in meinem Land, meiner Stadt wohnen darf, warum maßt er sich dann noch an, mir etwas vorzuschreiben? Etwa, dass ich Steuern zahlen muss, meinen unsympathischen Nachbarn nicht einfach mit einem großen Prügel aus seinem Haus jagen, oder dass ich nicht gegen Fremde hetzen darf?

Ein Staat, der seine Gesetze und seine Grenzen nicht verteidigt, hat praktisch seine Existenz verwirkt.

Mit Recht wenden die Menschlichen, die Hilfsbereiten, die – ohne bösen Unterton! – Guten ein, dass ein reiches Land wie Österreich einigen Tausend Menschen Schutz und Unterstützung zu bieten im Stande sein muss. Doch die übersehen, dass wir schon mitten in einem Strudel kollektiver atavistischer, sozialdarwinistischer Gefühle stecken: „Mehr von denen, weniger für uns hier!“ „Macht man das Tor einmal einen Spalt auf, dann sprengt es die Flut!“ „Das Wasser sucht sich stets den Weg des geringsten Widerstandes!“

Und vor allem: Wo und wann endet das alles?

Wenn man sich, wie das berühmte Gedicht auf die Freiheitsstatue in New York, zum Motto nimmt: „Gebt mir eure Müden, eure Armen/Eure geknechteten Massen, die sich danach sehnen, frei zu atmen“, dann kann man nicht sagen: „Aber bei zehntausend (oder hunderttausend oder zweihunderttausend) Armen ist dann Schluss!“

Das Recht auf Asyl wurde nicht unter der Annahme geschaffen, dass sich Massen unter Berufung auf dieses Recht in Bewegung setzen könnten. Solange es dieses Recht gibt, wird es auch keine geordnete Einwanderung geben, die, das ist ja der Treppenwitz bei der Sache, in Österreich und den meisten Ländern Europas gebraucht würde.

Die Armen, die geknechteten Massen Syriens, Afghanistans, Iraks, Pakistans, des Jemen, Libyens und noch gut eines Dutzend anderer Länder Afrikas, fast nur muslimischer Länder, sie werden nicht warten, sie werden starten, sobald Transportmittel zur Verfügung stehen.

Wir werden sie alle bewusst reinlassen müssen, oder wir müssen zu gewisser Härte, ja zu Grausamkeit bereit sein. Weil unsere Gesellschaft solche anarchischen Tage wie heute nicht oft verträgt, ohne aus den Fugen zu gehen.

Die Europäische Union, dieser unvollendete, unförmige Staats-Golem, wird weder eine Grenze schützen noch irgendjemandem Asyl gewähren können. Weil sie über kein Land verfügt, das man verteidigen oder verteilen könnte. Also bröckeln die EU-Schönwettersysteme wie „Schengen“ und „Dublin“ im Zeitraffer. Und vielleicht ist die Asylkrise ja die Hand, die das magische Symbol aus dem Mund des Golem zieht und ihn wieder zu Staub zerfallen lässt.

Published in: on 31. August 2015 at 23:05  Kommentare deaktiviert für Flucht! – Migration – Invasion?  
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Rasterfahndung nach den Depressiven?


Auch wenn es auf den ersten Blick nicht einleuchtet, es gibt einen kleinen, dünnen fast unsichtbaren Draht zwischen dem Thema Transgender und dem Absturz von Germanwings Flug 4U9525 in den französischen Alpen. Wobei ich davon ausgehe, dass die herrschende Theorie des vorsätzlich durch den Co-Piloten herbeigeführten Absturzes auch stimmt (die Chancen, dass es nicht so war, stehen inzwischen wohl so etwa eins zu einer Million).

Der verbindende Draht ist die Angst vor dem Bekanntwerden einer Erkrankung, einer Schwäche, eines sozialen Makels.

Herr L, der noch am Anfang seiner Karriere stehende 2. Pilot, scheint unter Depressionen gelitten zu haben. Aber er hat sie wohl bekämpft und versteckt zugleich, hat hier vielleicht einmal zaghaft eine Therapie begonnen, sie dann wieder abgebrochen. Immer in dem Dilemma lebend: meine Berufspflichten verlangen, dass ich eine Verschlechterung der Fluglinie melde – aber dann bin ich den Job los, wahrscheinlich für immer. Und im Hinterkopf vielleicht alte Stereotypen: Krankheit ist Schande, ist Schwäche. Piloten aber sind stark, müssen stark sein! Am Vormittag des 24. März 2015 muss ihn dann plötzlich ein Gefühl der Ausweglosigkeit umklammert haben, nachdem er eine ärztliche Krankschreibung ignoriert hatte: „Sie werden es rausfinden, alles ist aus!“ Und dann riss er 149 unschuldige Menschen mit sich in den Tod. Ich glaube nicht, dass es eine von langer Hand geplante Wahnsinnstat war.

Transgender kennen ein ähnliches Gefühl. Man schwankt zwischen dem Wunsch, offen und ehrlich mit seiner abweichenden Geschlechtsidentität umzugehen, und der Angst vor Verlusten: Verlust des Jobs, der Beziehung, der Familie, des Freundeskreises, der sozialen Reputation überhaupt. Ängste, die oft bei nüchterner Betrachtung oder rückblickend übertrieben sind. Man versucht es mit Grätschen und Verrenkungen. Man findet manchmal, je nach TG-Spielart, Kompromisse oder Zwischenlösungen. Manchmal bricht man durch und findet einen geraden, kompromisslosen Weg ins Freie. Manchmal aber auch nicht.

In den Nachwehen der Flugzeugkatastrophe brodelt es bereits beunruhigend im Medienkessel, summst es im Web und gurgelt es in den Eingeweiden der Politik. Der Abnormale, der Kranke als Bedrohung, so lautet die neue Verdachtslage. „Aber da muss man doch etwas dagegen tun!“ Und schon kommt es raus, bricht der Aktionismus durch und findet einen geraden, kompromisslosen Weg in die Überwachungsgesellschaft: Weg mit der Schweigepflicht der Ärzte, her mit der neuen Meldepflicht! Vertrauen war gestern, Kontrolle ist heute! Mehr Psychotests, legen wir neue Datensammlungen an, auf zur Rasterfahndung nach den Depressiven! Denn wer weiß, vielleicht stehen sie ja alle schon vor den Fliegerschulen Schlange? Und da gibt es auch noch andere Macken, die bedrohlich werden könnten….

Sind sie jetzt beunruhigt, fürchten sie die kommenden Kontrollen, haben sie jetzt Angst um ihren Job, das Sorgerecht für ihre Kinder, ihre Pilotenlizenz, ihren Führerschein? Depression muss nicht das Ende sein! Leiden sie still weiter und lernen sie, wie man das Leiden maskiert und im Alltag funktioniert. So wie auch Andreas L den psychologischen Eignungstest für die Pilotenausbildung bei der Lufthansa bestanden hat.

Und halten sie sich in der Zukunft besser von Ärzten und Therapeuten fern!

Nachtrag am 1. April 2015: In den letzten 24 Stunden ist publik geworden, dass der Co-Pilot 2009 als Berufsanwärter eine vorangegangene „depressive Episode“ der Verkehrsfliegerschule der Lufthansa, an der er ausgebildet wurde, gar nicht verheimlicht hat. Nach allem, was man derzeit weiß, wurde er dann nochmals getestet, für tauglich befunden, und konnte die Ausbildung abschließen. Also eigentlich Vertrauen und Kontrolle, beides jedoch im Ergebnis fatale Irrtümer.

Schläfer, Verblendete und ein Drahtzieher, der im Schatten bleibt


„Die Schlafwandler – Wie Europa in der Ersten Weltkrieg zog“ von Christopher Clark (übersetzt von Norbert Juraschitz), gelesen als Hardcover (3. Auflage 2013) aus dem Verlag DVA, ISBN 978-3-421-04359-7

Das für mich vielleicht Interessanteste an diesem Buch ist, wer darin – wie in fast allen Büchern über den Ausbruch des Ersten Weltkriegs – nicht vorkommt. Fast genau heute vor 100 Jahren, am 16. März 1914, setzte der Ministerpräsident der „im Reichsrat vertretenen Königreiche und Länder“ (Österreich, Cisleithanien) jenes innenpolitische Räderwerk in Gang, das in den Krieg führte. Karl Reichsgraf von Stürgkh, ein aristokratischer Grundbesitzer aus der Steiermark, ließ Kaiser Franz Joseph I. jene Entschließung unterschreiben, die faktisch dem seit 1867 währenden Experiment, die österreichischen Länder der Habsburgermonarchie nach demokratischen Regeln zu regieren, ein Ende setzte. Offiziell wurde das Abgeordnetenhaus des Reichsrats nur vertagt. Man kann aber davon ausgehen, dass Stürgkh nicht die Absicht hatte, die Volksvertreter, solange er im Amt war, je wieder zu versammeln.

Natürlich war Stürgkh klar, dass er sich auf Dauer bei diesen Verhältnissen schwer an der Macht halten konnte. Solange er das Vertrauen des Monarchen hatte, konnte er seine Kabinettskollegen, deren Unterschriften er unter dem Text neuer Notverordnungen brauchte, auf Linie halten. Aber da war die Frage, ob man ohne Gesetzesbeschluss des Reichsrats ein Budget erstellen konnte? Und was würde geschehen, wenn etwa die Sozialdemokratische Partei, deren politische Kampagnen für das allgemeine gleiche Wahlrecht in den Jahren 1905 bis 1907 wesentlich zu dessen Einführung beigetragen hatten, wiederum tausende Arbeiter zu Demonstrationen gegen die Diktatur des Ministerpräsidenten auf die Straße rief? Würde der greise Kaiser im Fall der Fälle das Standrecht verhängen und das Militär gegen das Volk schicken, so wie es der russische Zar im Jahr 1905 getan hatte?

Karl Reichsgraf von Stürgkh (1859 bis 1916) Quelle: Wikimedia Commons

Karl Reichsgraf von Stürgkh (1859 bis 1916) Quelle: Wikimedia Commons

Das waren Fragen, über die man im Wien des Frühjahrs 1914 mehr oder weniger laut diskutierte. Viel bezeichnender war aber, dass Stürgkhs Diktatur auf so wenig Widerstand stieß. Das 1907 und 1911 demokratisch gewählte Parlament hatte sich als Tollhaus erwiesen, als amorphe Männermasse ohne Richtung, ohne Disziplin, ohne fassbare Mehrheiten und ohne sozialen Zusammenhalt. Es tat sich durch andauernden Streit (bis zu Handgreiflichkeiten im Plenum), Schreiduelle, Filibusterreden und wechselseitige Obstruktionen (z.B. das berüchtigte „Pultdeckelkonzert“, bei dem man durch Klappern die Reden gegnerischer Mandatare störte)  hervor. Man verstand verbreitet, dass ein Regierungschef auf solche Leute weder bauen, noch von ihnen abhängig sein wollte.  Immer mehr verbreitete sich die Ansicht, dass ein Vielvölkerstaat wie Cisleithanien nicht demokratisch reformiert sondern bestenfalls, nach dem Rezept Bismarcks der Jahre 1864 bis 1871, durch Blut und Eisen zusammengeschweißt oder auch nur zusammengehalten werden konnte. Man hasste in Cisleithanien die Ungarn für ihren nationalen Egoismus, bewunderte sie aber gleichzeitig für die Effektivität,  mit der sie die Interessen der magyarischen Eliten bündelten und durchsetzten.

So schwor man in Österreich, unbewusst und Stück für Stück, der Demokratie ab und begann, in einem Krieg eine praktikable Lösung der inneren und äußeren Probleme des Reichs zu sehen. Demokratie war keine Lösung. Sie hatte ihre Chance gehabt und versagt. Demokratie schien vielmehr das Problem zu sein. Die Lösung, das war in den Augen vieler eben „Blut und Eisen“, oder, wie es eine andere, vielfach variierte Phrase ausdrückte: „Lieber ehrenvoll im Kampf zu Grunde gehen als bei lebendigem Leib verfaulen!“

Auch Clark widmet Stürgkh nur ein paar Zeilen und der innenpolitischen Lage der Habsburgermonarchie eine oberflächliche Analyse. Ich war, wenn ich ehrlich bin, von seinem Buch, das mit vielen Vorschusslorbeeren auf mein Lesepult gekommen ist, leicht enttäuscht. Vielleicht nehme ich als Österreicherin Österreich auch zu wichtig, aber ich kann Clarks Befund als Historiker, dass die österreichisch-ungarische Monarchie nicht dem Tode geweiht war, und die Ursache des Ersten Weltkriegs in einer Kaskade strategischer Fehleinschätzungen im Viereck Deutschland-Russland-Großbritannien-Frankreich zu suchen ist, nicht ganz teilen. Aus meiner Sicht hatte Österreich-Ungarn den Finger am Abzug. Das Geflecht der Militärbündnisse war so straff gespannt, und das Räderwerk der strategischen (Angriffs-) Pläne so unerbittlich, dass man am Wiener Ballhausplatz die Folgen eines Angriffs auf Serbien durchaus berechnen konnte. Also haben wir da folgende Faktoren:

  1. Österreich-Ungarn als zerfallende Großmacht, davon Cisleithanien mit einer Regierung in einer schier ausweglosen innenpolitischen Sackgasse, ein Staatengebilde mit unübersehbaren suizidalen Neigungen.
  2. Die Armee der Habsburgermonarchie mit ihrer abgehobenen, sozialdarwinistisch geprägten Offizierskaste, deren Denkweise der Generalstabschef Franz Conrad von Hötzendorf, der Apologet eines „Präventivkriegs“, perfekt verkörperte.
  3. Eine Oberschicht, die insgesamt – aus der Erfahrung der Jahre 1864 bis 1871 heraus – dem Axiom anhing, dass Deutschland überlegen, allmächtig und unbesiegbar war, dass also ein Krieg an der Seite Deutschlands ein Krieg auf der Siegerseite sein musste.

Natürlich hätte Deutschland Österreich-Ungarn in den Arm fallen können. Natürlich hätte Russland Serbien seine Unterstützung versagen und es so zu einer Kapitulation vor der Habsburgermonarchie nötigen können. Natürlich hätten Frankreich und Großbritannien Russland in die gleiche Richtung drängen können. Doch warum? Der Punkt ist, dass wir über die Schrecken des Ersten Weltkriegs Bescheid wissen. 1914 konnten sich höchstens fantasiebegabte Militärs mit aktuellen Kriegserfahrungen (also etwa Militärbeobachter aus dem russisch-japanischen Krieg von 1904/1905) die Schrecken eines Grabenkriegs unter Einsatz moderner Waffen vorstellen. Alle anderen sahen einen Krieg als ehrenhaftes und mehr oder weniger unvermeidliches Ereignis, als eine Art von reinigendem Gewitter.

Und so geschah es.

Und Graf Stürgkh? Der saß mit am Tisch, als der gemeinsame Ministerrat der Habsburgermonarchie jeweils das Ultimatum und die Kriegserklärung an Serbien beriet und beschloss. Aber die Schuld am Krieg, die sucht Clark, wenn schon, dann eher beim k.u.k. Außenminister Graf Berchtold oder bei General Conrad, nicht jedoch bei der formellen Nummer Zwei der politischen Hierarchie des Habsburgerreiches. Ich wundere mich immer wieder, wie der Mann es geschafft hat, als Schatten durch die Weltgeschichte zu huschen! Seine Ende war spektakulär und seiner Rolle irgendwie angemessen. Am 21. Oktober 1916 streckte ihn der Linkssozialist Friedrich Adler, der ihm beim Mittagessen in einem belebten Restaurant in der Wiener Innenstadt aufgelauert hatte, mit mehreren Schüssen aus einem Revolver nieder. Kaiser Karl wagte es nicht mehr, Friedrich Adlers Todesurteil vollstrecken zu lassen. 1918 begnadigte er ihn sogar und ließ ihn aus dem Gefängnis entlassen.

Und, ja, lesen sie Clarks Buch, es ist nüchtern geschrieben und bietet doch ein paar neue Perspektiven. Und verzeihen sie ihm bzw. den deutschen Übersetzern kleine Fehler wie den Fluss „Leithe“ oder die mehrfache Verwechslung des britischen Ersten Seelords (1914 der ranghöchste Admiral und strategischer Führer der Royal Navy) mit dem Ersten Lord der Admiralität (politischer Chef der britischen Flottenverwaltung, 1914 ein Amt mit Kabinettsrang und von Winston Churchill bekleidet). Falls sie ein wirklich gutes und fesselndes Buch über die Vorgeschichte des Ersten Weltkriegs lesen wollen, greifen sie zu Robert K. Massies „Dreadnought“ (deutscher Titel: „Die Schalen des Zorns“), der die wichtigsten Wurzeln des Krieges in der Entfremdung zwischen Deutschland und Großbritannien und dem Flotten-Wettrüsten beider Nationen zwischen 1898 und 1914 erkennt.

Published in: on 6. April 2014 at 21:58  Kommentare deaktiviert für Schläfer, Verblendete und ein Drahtzieher, der im Schatten bleibt  
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Warum ich nicht für Barack Obama stimmen würde


Würde ich für Mitt Romney, den Präsidentschaftskandidaten der Republikaner stimmen?

Sicher nicht. Es gibt zu vieles, was mich in gesellschafts- und wirtschaftspolitischen Fragen von der konservativen Hälfte des politischen Spektrums der Vereinigten Staaten von Amerika trennt.

Aber es gibt eines, das ich dem amtierenden Präsidenten, bei allen guten Absichten und innenpolitischen( Teil-) Erfolgen nicht verzeihen kann: den Tod von Osama bin Laden.

Es geht hier einerseits nicht um den einzelnen Mann, Osama, seine Verbrechen, seine Schuld und seine Strafe. Ich habe keine Zweifel, dass hier ein Anstifter zum mehrtausendfachen Mord gestorben ist, der nach moralischen Maßstäben den Tod verdient haben könnte.

Denn es ist andererseits unerträglich, dass der andere, Obama, der Präsident des mächtigsten Staates der Erde, seinen Soldaten befohlen haben könnte: „Schnappt euch den Kerl, und wenn ihn – rein zufällig natürlich, in Notwehr oder beim Versuch zu flüchten – dabei eine Kugel trifft, wird keiner nach den näheren Umständen fragen.“ Dies alles untermalt von einem unmissverständlichen präsidentiellen Augenzwinkern: „Bringt mir den Kopf von Osama bin Laden!“

Diktatoren befehlen „Justizmorde“, machen sich zu Staatsanwalt, Richter und Henker in Personalunion, demokratische Staatschefs dürfen dies nicht tun!  Nicht, wenn sie einem Staat vorstehen, über dessen oberstem Gerichtshof die Giebelinschrift „Equal Justice Under Law“ prangt, dessen Verfassung das Prinzip des „due process of law“ (rechtsstaatlichen und fairen Verfahrens) hochhält, so wie es im 6. Amendment (Ergänzungsartikel) der Verfassung der Vereinigten Staaten für den Strafprozess festgeschrieben ist:

In all criminal prosecutions, the accused shall enjoy the right to a speedy and public trial, by an impartial jury of the State and district wherein the crime shall have been committed, which district shall have been previously ascertained by law, and to be informed of the nature and cause of the accusation; to be confronted with the witnesses against him; to have compulsory process for obtaining witnesses in his favor, and to have the Assistance of Counsel for his defence.

In deutscher Übersetzung:

In allen Strafverfahren hat der Angeklagte Anspruch auf einen unverzüglichen und öffentlichen Prozess vor einem unparteiischen Geschworenengericht desjenigen Staates und Bezirks, in welchem die Straftat begangen wurde, wobei der zuständige Bezirk vorher auf gesetzlichem Wege zu ermitteln ist. Er hat weiterhin Anspruch darauf, über die Art und Gründe der Anklage unterrichtet und den Belastungszeugen gegenübergestellt zu werden, sowie auf Zwangsvorladung von Entlastungszeugen und einen Rechtsbeistand zu seiner Verteidigung. (Quelle: Wikipedia)

Nichts davon hat Osama gekriegt. Und Obama hofft unter anderem, als „Sieger“ in dieser „Schlacht“ im „Krieg gegen den Terror“ (eine Kompanie schwerbewaffneter Elitesoldaten hat einen alten Mann und ein paar seiner Begleiter und Leibwächter erschossen) seine zweite Amtszeit zu sichern.

Abseits des kommenden Wahlergebnisses hat er damit jedoch nur eines erreicht: zahlreiche Schweinereien der Regierung von George W. Bush sind nachträglich bestätigt und legitimiert worden: die Vermengung von Kriegsführung und Strafverfolgung, die Verschmutzung des Strafrechts durch das Kriegsvölkerrecht (gemäß dem ein Feind einfach getötet werden darf), die Folterkeller der CIA, die Anhaltelager und die Militärtribunale. Barack Obama hat diese Instrumente und das dazugehörige Klima, erdacht und geschaffen von seinen politischen Todfeinden, einfach skrupellos benutzt. Und er ist jenen damit ähnlich, zu ähnlich geworden.

Die Israelis haben den Kriegsverbrecher und Massenmörder Eichmann im Jahre 1960 in einem erstaunlich hellsichtigen Moment ihrer Geschichte – was keine Selbstverständlichkeit darstellt! – in Argentinien gerade nicht einfach von ihren Agenten per Genickschuss töten lassen. Nein, sie haben ihn, ungeachtet aller Unwägbarkeiten und möglichen außenpolitischen Verwicklungen, mitgenommen und vor ein Gericht gestellt.

Wäre ich Bürgerin der Vereinigten Staaten von Amerika, ich würde wohl weiß oder eine/n der unabhängigen Kandidat/inn/en wählen.

Published in: on 1. November 2012 at 22:34  Kommentare deaktiviert für Warum ich nicht für Barack Obama stimmen würde  
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Fort Sumter, 12. April 1861, halb Fünf Uhr morgens


Ein Freiwilliger der Staatsmiliz von South Carolina namens Edmund Ruffin zieht die Zündschnur seiner Kanone. Ein Krachen, eine Granate verlässt den Geschützlauf und schlägt in Fort Sumter, einem steinernen Kastell in der Hafeneinfahrt von Charleston, South Carolina, ein. Die Streitkräfte der „Konföderierten Staaten von Amerika“ (CSA) haben den ersten Schuss auf eine militärische Stellung der „Vereinigten Staaten von Amerika“ (USA) abgefeuert, der Amerikanische Bürgerkrieg hat begonnen.

Es ist auf den Tag einhundertfünfzig Jahre her.

Es endete rund 560.000 Tote später am 23. Juni 1865 mit der Kapitulation der letzten konföderierten Einheiten in Texas.

Dieser blutigste einzelne Krieg in der Geschichte der USA begann wegen einer Nichtigkeit, er brach eines Symbols wegen aus. Denn seit der Wahl von Präsident Abraham Lincoln im Herbst 1860 hatte sich ein Staat des Südens nach dem anderen von der Union losgesagt und war den neugebildeten CSA beigetreten. Nahezu unwidersprochen, ohne mehr als bloß verbalen Protest seitens der Bundesbehörden, auch nach dem Amtsantritt der Regierung Lincoln am 4. März 1861. Die Bundesbeamten im Süden legten einfach ihre Ämter nieder und verließen die Gerichtshöfe, Zoll- und Postämter, die Armee räumte Festungen und Kasernen, die Kriegsmarine Docks und Werften. Anfang April 1861 war die Sezession eine Tatsache, die CSA verfügten über alle Elemente eines funktionierenden Bundesstaates.

Nur an zwei Punkten behauptete die Unionsarmee symbolische Positionen im Süden: Fort Sumter, in der Einfahrt der Hafenbucht von Charleston gelegen und bereits von Stellungen der neu gebildeten konföderierten Streitkräfte auf dem Festland umzingelt, und Fort Pickens vor Pensacola in Florida. Ein Versuch, die weniger als hundert Mann zählende Besatzung der U.S. Army in Fort Sumter unter dem Kommando eines Major Anderson zu verstärken oder zu versorgen, scheiterte. Nicht zuletzt, weil Präsident Lincoln das Risiko einer gewaltsamen Auseinandersetzung scheute. Schließlich befreiten ihn die Behörden South Carolinas gewissermaßen aus dem Dilemma, in dem sie ein Ultimatum zum Abzug der Bundestruppen aus Fort Sumter setzten, das Washington ungenutzt verstreichen ließ.

Und dann feuerte Edmund Ruffin seine Kanone ab.

Die folgende Belagerung dauerte nur 34 Stunden, die einzigen Toten auf Seiten der U.S. Army starben bei einem Schießunfall während des Flaggensaluts vor dem Abzug aus der Festung. Major Anderson kapitulierte, weil seine Position ohne Aussicht auf Nachschub militärisch nicht haltbar war.

Fort Pickens in Florida dagegen war die einzige Stellung auf CSA-Territorum, die die USA während des gesamten Bürgerkriegs ununterbrochen hielten. Strategisch war die Sache der Konföderation vom ersten Kriegstag an unhaltbar. Der Norden brauchte nur den längeren Atem – den er am Ende auch hatte.

Bis heute ist mein persönliches Empfinden zum amerikanischen Bürgerkrieg sehr gespalten. Als überzeugte Anhängerin des kleinräumigen Nationalstaates, des Rechts auf nationale Selbstbestimmung und der Bewahrung regionaler Traditionen, kann ich die Sache der Konföderierten in diesem Sinne verstehen. Als Schutz- und Trutzbund zur Verteidigung der Sklaverei und des Rassismus war ebendiese Sache jedoch zugleich abscheulich und intolerabel.

Der Bürgerkrieg beendete die Sklaverei übrigens nur auf dem Papier. Ein schweigender und verlogener  Pakt zwischen den – weißen – Eliten des Nordens und des Südens sabotierte nach 1865 bald alle Bemühungen zur tatsächlichen Emanzipation und Gleichstellung der Afroamerikaner im Süden. Ein rassistisches Apartheid-System blockierte soziale Kontakte über die Rassenschranken hinweg, bürokratische Schikanen und staatlich geduldeter weißer Terror verhinderten politische Mitbestimmung der Afroamerikaner, und ein ausbeuterisches Pacht-System perpetuierte die wirtschaftlichen Bedingungen der Sklaverei unter anderem Namen.

Erst die Bürgerrechtsbewegung rund hundert Jahre nach dem Bürgerkrieg leitete das Ende des Rassismus und den Sieg der Gleichberechtigung ein.

Zwei Lese- und Schauempfehlungen zum Thema:

  1. Crisis at Fort Sumter – ein englischsprachiges Lehr- und Lernprogramm der Tulane-University, New Orleans, rund um den Ausbruch des Amerikanischen Bürgerkriegs
  2. The Civil War – der Amerikanische Bürgerkrieg, ein neunteiliger Dokumentarfilm von Ken Burns von 1990, ist immer noch, trotz einiger später aufgedeckter historischer Unschärfen, das gültige Filmwerk zum Thema. Wird wohl aus gegebenem Anlass auf dem einen oder anderen Fernsehkanal wiederholt werden, und ist (auch auf Deutsch) auf DVD erhältlich.
Published in: on 12. April 2011 at 01:19  Comments (5)  
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