Während ich dies schreibe, bestätigen sich Medienberichte, wonach die ungarische Regierung, trotz des Baus eines Zaunes an der Grenze zu Serbien, vor dem Ansturm von Flüchtlingen kapituliert und den Menschen, die den Budapester Ostbahnhof belagtert haben, das Besteigen von Zügen in Richtung Österreich und Deutschland gestattet hat. „Hunderte“ – gezählt hat sie keiner – sind heute allein per Bahn in Wien angekommen.
Dazu die aktuelle Meldung der ÖBB (31. August 2015, früher Abend):
„Wegen überfüllter Züge aus Budapest ist der Verkehr zwischen Wien und Budapest über Hegyeshalom derzeit nur sehr eingeschränkt möglich. Der RJ 64 ist ca. 200 Minuten verspätet und endet in Wien Westbf, der RJ 66 ist ca. 90 Minuten verspätet und fährt bis Wien Westbf. RJ 68 ist derzeit unbestimmt verspätet und endet ebenfalls in Wien Westbf. Von Wien nach München werden Ersatzzüge fahrplanmässig geführt. Die Züge RJ 63 und RJ 65 fahren nur bis Bruck a. d. Leitha. Weiterbeförderung mit den nächsten fahrplanmässigen Zügen.“
Es ist allerdings nicht klar, wann wieder ein fahrplanmäßiger Zugverkehr über die Grenze nach Ungarn möglich sein wird.
Obwohl all diese Menschen nach den Buchstaben des Gesetzes eigentlich gar nicht reisen dürften. Die wenigsten dürften (noch) einen Pass und keiner ein Visum für ein Land des Schengen-Raumes besitzen.
Was ist das nun? Eine Welle Hilfsbedürftiger ist es, solange „diese armen Menschen“ demütig gebeugt um Hilfe bitten und nicht mit uns Eingesessenen um Arbeitsplatz, Wohnung oder einen Platz am Sozialtropf (oder -topf) konkurrieren. Wenn aber einmal hunderte (tausende?) Menschen durch ihre bloße Masse und lautes Schreien („Lasst uns nach Deutschland!“ sollen sie in Budapest gerufen haben) Regierungen zum Nachgeben zwingen, dann ist das nicht mehr bloß eine Manifestation des Elends und des Bedürfnisses nach Schutz vor Verfolgung. Da ist Einwanderung erzwungen worden.
Denn wer in Ungarn würde all die Männer und ihre Familien vor dem Budapester Ostbahnhof denn töten, in eine Bürgerkriegsarmee zwingen, verhaften, foltern oder sonstwie quälen? Niemand. Das Schlimmste, was denen droht, wäre, kein Gratisessen und keinen Schlafplatz zu bekommen, und irgendwann dann der Rückschub nach Serbien, Mazedonien oder Griechenland. Um nach dem Gesetz im ersten sicheren Land um Asyl anzusuchen.
Dann ist es eine Invasion? Der Bruch von Gesetzen, die das Recht zum Aufenthalt regeln, das erzwungene, fast schon gewaltsame Überschreiten von Staatsgrenzen, um Aufenthalt, Arbeit und soziale Versorgung im Land der eigenen Wahl zu erzwingen, das alles ist eine direkte Herausforderung staatlicher Autorität. Und da wird es heikel. Denn wenn der Staat nicht mehr in der Lage ist, zu bestimmen, wer in meinem Land, meiner Stadt wohnen darf, warum maßt er sich dann noch an, mir etwas vorzuschreiben? Etwa, dass ich Steuern zahlen muss, meinen unsympathischen Nachbarn nicht einfach mit einem großen Prügel aus seinem Haus jagen, oder dass ich nicht gegen Fremde hetzen darf?
Ein Staat, der seine Gesetze und seine Grenzen nicht verteidigt, hat praktisch seine Existenz verwirkt.
Mit Recht wenden die Menschlichen, die Hilfsbereiten, die – ohne bösen Unterton! – Guten ein, dass ein reiches Land wie Österreich einigen Tausend Menschen Schutz und Unterstützung zu bieten im Stande sein muss. Doch die übersehen, dass wir schon mitten in einem Strudel kollektiver atavistischer, sozialdarwinistischer Gefühle stecken: „Mehr von denen, weniger für uns hier!“ „Macht man das Tor einmal einen Spalt auf, dann sprengt es die Flut!“ „Das Wasser sucht sich stets den Weg des geringsten Widerstandes!“
Und vor allem: Wo und wann endet das alles?
Wenn man sich, wie das berühmte Gedicht auf die Freiheitsstatue in New York, zum Motto nimmt: „Gebt mir eure Müden, eure Armen/Eure geknechteten Massen, die sich danach sehnen, frei zu atmen“, dann kann man nicht sagen: „Aber bei zehntausend (oder hunderttausend oder zweihunderttausend) Armen ist dann Schluss!“
Das Recht auf Asyl wurde nicht unter der Annahme geschaffen, dass sich Massen unter Berufung auf dieses Recht in Bewegung setzen könnten. Solange es dieses Recht gibt, wird es auch keine geordnete Einwanderung geben, die, das ist ja der Treppenwitz bei der Sache, in Österreich und den meisten Ländern Europas gebraucht würde.
Die Armen, die geknechteten Massen Syriens, Afghanistans, Iraks, Pakistans, des Jemen, Libyens und noch gut eines Dutzend anderer Länder Afrikas, fast nur muslimischer Länder, sie werden nicht warten, sie werden starten, sobald Transportmittel zur Verfügung stehen.
Wir werden sie alle bewusst reinlassen müssen, oder wir müssen zu gewisser Härte, ja zu Grausamkeit bereit sein. Weil unsere Gesellschaft solche anarchischen Tage wie heute nicht oft verträgt, ohne aus den Fugen zu gehen.
Die Europäische Union, dieser unvollendete, unförmige Staats-Golem, wird weder eine Grenze schützen noch irgendjemandem Asyl gewähren können. Weil sie über kein Land verfügt, das man verteidigen oder verteilen könnte. Also bröckeln die EU-Schönwettersysteme wie „Schengen“ und „Dublin“ im Zeitraffer. Und vielleicht ist die Asylkrise ja die Hand, die das magische Symbol aus dem Mund des Golem zieht und ihn wieder zu Staub zerfallen lässt.