Ballverlust


Operetten-Kritik 

Bühne Baden, Sommerarena, 31. Juli 2013

Richard Heuberger“Der Opernball“ (Léon/von Waldberg [Libretto], Bibl/Herzl/Ronzoni/Wahl [Einrichtung] )

Inszenierung: Volker Wahl und Michaela Ronzoni  (4. Aufführung in dieser Inszenierung)

Dirigent: Oliver Ostermann

Hortense ….. Julia Koci

Margret ….. Frauke Schäfer

Georg ….. Matjaz Stopinsek

Elise ….. Barbara Payha

Paul ….. Thomas Sigwald

Heini  ….. Elvira Soukop

Theophil ….. Heinz Zuber

Palmyra ….. Edith Leyrer

Cisnik  ….. Josef Forstner

Dodo ….. Gabriele Kridl

Herman/Graf Felsenberg/Ministerialrat ….. Artur Ortens

Eugen ….. Robert Sadil

—–

Den ersten Fehler bemerkt man gleich beim Aufschlagen des Programmheftes. Die Rollennamen! Hier hat wieder einmal der Korrekturstift vorwitziger Bearbeiter gewütet und das Stück in ein „wienerisches“ Korsett gezwängt. Aus dem französischen Marinekadetten „Henri“ einen „Heini“ zu machen, zeugt nun auch wirklich von Fantasie! Meine persönliche Grundregel für die Bewertung der Wiener Operette lautet allerdings: erstes Indiz für die Qualität des Librettos ist die Entfernung des Schauplatzes vom Stephansturm! Ein Stück, das auf einer flotten und für ihre Zeit recht frivolen französischen Boulevardkomödie („Die rosa Dominos“ von Delacour und Hennequin) basiert, an die Donau zu verlegen, macht die qualitätvolle Handlung nicht besser, widerspricht aber nachdrücklich dem Geist der Musik. Denn der Grazer Richard Heuberger nahm beim Komponieren einige kräftige Lungenzüge voll Pariser Luft und französischen Flairs, und seine allerletzte Absicht dürfte es gewesen sein, in „weanerischer Gemütlichkeit“ zu versumpern.

Abgesehen davon, dass es im späten 19. Jahrhundert noch gar nicht „den Opernball“ als festen Bestandteil des Wiener Ballkalenders gegeben hat (erst seit 1955), wäre es dort vermutlich auch weniger freizügig zugegangen als auf den Maskenbällen in der Pariser Oper. Und warum man bei Dommayers (in der Originalfassung: Duménils) mitten im Fasching, also im Spätwinter, auf der Dachterrasse zu frühstücken beliebt, können sie das Regietalent fragen, das Bühnenbild und Schauplatz wohl rund um die Idee hat bauen lassen, den frechen Marinekadetten beim Flirten mit dem Stubenmädchen zu einem Balanceakt auf der Brüstung über dem Abgrund zu nötigen.

Abseits dieser Regie-Mätzchen funktioniert die Verwechslungskomödie rund um den von der abgebrühten Margret Dommayer (in der Originalfassung: Marguérite Duménil) arrangierten Partnertausch recht gut. Am Ende tröstet man sich damit, dass „es“ im Chambre Separée unter dem Schutz der Maske ja doch nur beinahe passiert ist – und ganz genau möchte wohl keiner der Männer wissen, ob er jetzt mit der Frau des anderen, einer Halbseidenen vom „Theater“ oder nur mit dem Stubenmädchen….hat. Man geht auseinander, die Freundschaft der Paare ist bei realistischer Betrachtung wohl zerbrochen, Paul und Elise Aumann (im Original: Paul und Angèle Aubier) kehren desillusioniert zurück nach Amstetten (im Original: Orléans), die Ball-Kellner zählen ihren Schmattes, und der Marinekadett wird sich mit anderen Dienstboten zu trösten wissen.

Die in Baden gespielte Fassung hält sich sonst musikalisch und textlich ziemlich genau an die Bühnenfassung, die ich am 21. September 1988 in der Volksoper gesehen habe. Das heurige Badener Programmheft nennt Rudolf Bibl (der 1988 dirigiert hat) und den Badener Intendanten Robert Herzl (vom dem die 1988 gesehene Inszenierung stammte) als Bearbeiter. In Baden erlaubt man sich aber den mehr als schlechten Scherz, die berühmte Ouvertüre nach einem Drittel abzubrechen und als musikalische Pantomime und Entreactmusik an anderer Stelle zu verwurschten. Ein weiterer unnötiger Bruch. Dies ist umso bedauerlicher, als die Wirkung dieser Operette nicht nur auf schnell fließenden Ensembleszenen und einer sehr feinen Ziselierung der Musik beruht. Heuberger bedient sich auch einiger kleiner Leitmotive, die teils bereits in der Ouvertüre vorkommen, weshalb diese Musik einfach an die Stelle gehört, für die sie komponiert worden ist.

Womit wir bei den künstlerischen Akteurinnen und Akteuren wären. Oliver Ostermann vermochte als Dirigent der Partitur und dem Orchester keinen Glanz zu entlocken. Selten habe ich eine so uninspirierte, so hohl und zäh klingende Operettenaufführung gehört. Aus der guten Riege der Sängerinnen und Sänger ragte eindeutig Matjaz Stopinsek als Georg heraus, dessen vor allem ab dem 2. Akt ebenso kraftvoll wie makellos geführte Tenorstimme den dringenden Wunsch erweckt hat, den Sänger auch einmal in einer dramatischen Rolle zu hören. Alle anderen bewältigten ihre Rollen solide bis makellos.

Über die Inszenierung hätte ich vielleicht sogar Gutes geschrieben, hätten sich Volker Wahl und Michaela Ronzoni nicht die erwähnten halblustigen und überflüssigen Umstellungen einfallen lassen.

Kurzer Schlussapplaus.

Published in: on 13. August 2013 at 23:38  Kommentare deaktiviert für Ballverlust  
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Ein einfacher, kurzer Nachruf


Am 18. Mai 2012 ist Dietrich Fischer-Dieskau, einer der größten der großen Opernsänger des 20. Jahrhunderts, in Berg am Starnberger See verstorben.

Obwohl der Bariton heute meist für seine Interpretation der Lieder von Schubert oder Mahler gerühmt wird, halte ich ihn auch und vor allem für ein musikdramatisches Genie.

Seine Stimme war für mich eine der ganz wenigen Gesangsstimmen, die man unverwechselbar und sicher nach etwa drei bis fünf Takten identifizieren konnte. Sie wird zwar meist als „lyrischer Bariton“ klassifiziert, hatte aber irgendetwas Kraftvolles, Metallisches, Heldenhaftes an sich, das diesen Rahmen sprengt. Fischer-Dieskau war einer jener raren Opernsänger, die den Gesangstext stets sauber und gut verständlich artikulieren konnten. Er erlaubte sich gewisse Freiheiten in der Phrasierung, aber diese waren stets interpretatorisch gut begründet. Wegen der Klarheit seines Vortrags konnte er eine Rolle gleichsam allein mit seiner Stimme modellieren.

Einige seiner Aufnahmen von Verdi-Opern in deutscher Übersetzung aus der Epoche zwischen 1945 und 1965 waren für mich und meine Liebe zum Genre Oper prägend. Ein Marquis Posa, der als Opfer der Meuchelmörder der Inquisition in den Armen seines Freundes Don Carlos stirbt („Du wirst einst Spanien befreien! Carlos, leb‘ wohl, gedenke mein!“), wird in meinen Ohren stets so klingen wie Dietrich Fischer-Dieskau.

Published in: on 22. Mai 2012 at 22:00  Kommentare deaktiviert für Ein einfacher, kurzer Nachruf  
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Im Alptraumland der Operette


Operetten-Schnellkritik

Bühne Baden, Sommerarena, 4. August  2011

Franz von Suppé „Boccaccio“ (Friedrich/Zell/Genée [Libretto], Breznik/Schmidt/Herzl [Einrichtung] )

Inszenierung: Robert Herzl  (5. Aufführung in dieser Inszenierung)

Dirigent: Franz Josef Breznik

Lorenz, Herzog der Toscana  ….. René Rumpold

Giovanni Boccaccio ….. Christina Khosrowi

Pietro, Prinz von Palermo ….. Johann Winzer

Scalza, Barbier ….. Beppo Binder

Beatrice, seine Frau ….. Elisabeth Flechl

Lottheringhi, Fassbinder ….. Daniel Ohlenschläger

Isabella, seine Frau ….. Frauke Schäfer

Lambertuccio, Gewürzkrämer ….. Thomas Markus

Peronella, seine Frau ….. Regula Rosin

Fiametta, beider Ziehtochter ….. Jasmina Sakr

Leonetto, Student ….. Anton Graner

Podesta ….. Robert Sadil

Filippa ….. Kerstin Raunig

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Ich schreibe ja selten und eher ungern Verrisse. Aber das wird einer, schnallen sie sich also an, liebe Leserinnen und Leser!

Als ich gestern gegen Zehn nach Zehn aus der Badener Sommerarena gestolpert bin, war ich fast froh, einem Alptraum entkommen zu sein. Ich gebe zu, dass ich wegen vorangegangenen Pechs am Black-Jack-Tisch im Spielcasino nicht allerbester Laune war, aber das, diese Enttäuschung hatte ich mir bei einem meiner Lieblings-Bühnenwerke definitiv nicht verdient!

Eines von Franz von Suppés Bagatell- und Gelegenheitswerken heißt ja, glaube ich jedenfalls, „Der Teufel auf Erden“, und den gestrigen Luzifer („Pleased to meet you,  hope you guessed my name!“) kann man sogar beim Namen nennen: Er heißt Robert Herzl. Und die Freude an dieser Begegnung war endenwollend. Und ist Luzifer nicht eigentlich der Name des Engels, der einst der Lichtbringer Gottes war?

Der nunmehrige künstlerische Direktor des Badener Theaters beschränkt sich leider nicht aufs Licht sondern kann die Finger nicht vom Regiesessel lassen! Er zerhackte und zer-arrangierte eines der musikalischen Meisterwerke der Wiener Operette zu einer kleistrigen, absolut peinlichen Nummernrevue, für deren Regiequalitäten der Ausdruck „Stadttheaterniveau“ noch schmeichelhaft wäre. Das war Amateurliga. Jedes Finale ein hölzernes Schlusstableau mit der dramaturgischen Spannkraft einer Szene des „Villacher Faschings“ von anno 1972, gekrönt von sinnlosem Ballettgehopse unter dem Motto: „Hoch das Bein!“.

Ja, es stimmt schon, dass „Boccaccio“ heute besonders schwierig zu inszenieren ist, da der Handlungsfaden schwach ist, und die Situations- und Charakterkomik des Librettos in unserer Zeit nicht mehr automatisch funktioniert. Aber wenn man meint, dass das Stück heute nicht mehr trägt, dann soll man es halt nicht ansetzen, statt es mit einer stümperhaften Bearbeitung und einer Tölpelregie eiskalt hinzurichten.

Ich halte mich nicht damit auf, ins Detail zu gehen, aus dieser Katastrophe kommt keiner künstlerisch lebend raus!

Doch halt, eine hat sich eine Ausnahme verdient! Frau Christina Khosrowi, die Darstellerin des Titelhelden, überzeugte mich durch ihre sehr schöne, kraftvolle Mezzosopranstimme. Es entspricht der Originalfassung dieser Operette (immerhin diese Güte hatten Herr Herzl & Co. in ihrem Bearbeitungsgestümpere), den Dichter als Hosenrolle anzulegen, und irgendwie hatte Frau Khosrowis Stimme dazu das passende, leicht männlich klingende Timbre. Das bekannte Duett Boccaccio – Fiametta „Florenz hat schöne Frauen“ (hier in der Fassung mit italienischem Text in der zweiten Strophe) bekommt mit zwei Frauenstimmen einen ganz eigenen, besonders schönen Klang, der im Wien des späten 19. Jahrhunderts sicher auch leicht queer-erotischen Kitzel im Publikum auslöste. Wann durften sich sonst schon zwei Frauen auf der Bühne küssen?

Alle anderen können von Dank reden, dass sie nicht mit dem Regisseur zur Hölle fahren müssen! Kühler, seniorenclubmäßiger Schlussapplaus. Anscheinend war ich nicht die einzige, die schnell da raus wollte!

Published in: on 5. August 2011 at 12:10  Kommentare deaktiviert für Im Alptraumland der Operette  
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Überm Abgrund zwischen Kitsch und Verismo


Opern-Schnellkritik

(na gut, diesmal nicht soo schnell… 😉 )

Volksoper Wien, 27. Juni 2011

Wilhelm Kienzl  „Der Evangelimann“ (Kienzl/nach Meißner)

Regie: Josef Ernst Köpplinger  (33. Aufführung in dieser Inszenierung)

Dirigent: Gerrit Prießnitz

Friedrich Engel, Justiziär ….. Walter Fink

Martha, seine Nichte ….. Elisabeth Flechl

Magdalena, deren Freundin ….. Alexandra Kloose

Johannes Freudhofer, Schullehrer ….. Sebastian Holecek

Mathias Freudhofer, Amtsschreiber ….. Herbert Lippert

Xaver Zitterbart ….. Jeffrey Treganza

Anton Schnappauf ….. Josef Luftensteiner

Hans, ein junger Bauernbursche ….. Christian Drescher

Friedrich Aibler ….. Florian Spiess

Aiblers Frau ….. Ulrike Pichler-Steffen

Frau Huber ….. Lidia Peski

Nachtwächter ….. Thomas Plüddemann

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Oh Gott, er ist wieder da! So möchte man fast ausrufen, angesichts der erfolgreichen Aufführungsserie dieser einstigen Musteroper für das Haus am Währinger Gürtel. Ja, so liebten die bürgerlichen Wienerinnen und Wiener der Zeit um 1900, die Patrone und Paten der Christlichsozialen Partei, deren Namen in den Foyers der heutigen Volksoper noch in Stein und Marmor gemeisselt zu lesen sind, ihr Musiktheater: eine Prise Wagner, etwas Lohengrin-Chromatik, Leitmotive-Light sozusagen, dazu „öchte Volkstypen“, christliche Frömmigkeit und ein Quentchen Walzerklang und Ländlersang. Ein „bürgerliches Rührstück“ eben, wie der schon altersmilde legendäre Musikkritiker Eduard Hanslick in seiner grundsätzlich wohlwollenden Rezension der Wiener Erstaufführung 1896 anmerkte.

Heutzutage un-er-träglich – möchte man der Papierform nach meinen, Kitsch-Alarmstufe Rot! Und doch hat es mich da einfach hingezogen, sodass ich schnell entschlossen eine der wenigen noch verfügbaren Karten, Balkonloge 4 rechts, zweite Reihe, erstanden habe.

Und ich habe es nicht bereut!

Wenn man die Geschichte dieser Oper erzählt, sollte man dem Autor der literarischen Vorlage ein paar Zeilen widmen. Dr.iur. Leopold Florian Meißner war nämlich nicht nur ein als Literat dilettierender Polizeibeamter, Advokat und Kommunalpolitiker. Als Mann der zivilen Geheimpolizei (Staatspolizei) überwachte er auch politisch missliebige Zeitgenossen und organisierte für den Ministerpräsidenten Graf Taaffe u.a. die Bespitzelung des Kronprinzen (als „Führungsagent“ der Kupplerin und Polizeikonfidentin Johanna Wolf, die wiederum Rudolfs Maitresse Marie „Mizzi“ Caspar aushorchte). Meißner muss einer jener Männer gewesen sein, die über die Hintergründe von Rudolfs Selbstmord in Mayerling am besten Bescheid gewusst haben. Als loyaler kaiserlicher Beamter schwieg er darüber allerdings eisern. Ebenso schwieg der Advokat Dr. Meißner wohl über einige diskrete Arrangements, die er für hochgestellte Persönlichkeiten nach außerehelichen sexuellen Abenteuern getroffen haben soll, um das Schweigen der betreffenden Damen zu sichern. Einer seiner Mandanten soll der spätere deutsche Kaiser Wilhelm II. gewesen sein.

Mit anderen Worten, dieser Dr. Meißner hatte zwei Gesichter: hie der fantasiebegabte, menschenfreundliche Beamte und hilfsbereite Advokat, als der er gerne posierte, dort der skrupellose, fouchéhafte Diener der Mächtigen mit engen Kontakten zur Halbwelt. Dieser Mann war nicht nur ein Guter.

Als „Guter“ hinterließ Dr. Meißner den zeitweilig überaus populären Erzählband „Aus den Papieren eines Polizeikommissärs“, der auch die Geschichte vom Evangelimann enthält. Der Erzähler soll stets das Gerücht genährt haben, alles darin sei wahr, wenn er auch den Ort der Handlung und die Namen verändert habe. Doch der endgültige Beweis dafür konnte bisher nicht erbracht werden, weder in Wien, noch an den zwei als das „St. Othmar“ des ersten Aktes in Frage kommenden Plätzen, dem Augustiner-Chorherrnstift Göttweig und dem Benediktinerstift Melk.

Der Komponist und seine Frau kauften sich den Reclam-Band mit Meißners Geschichten als Sommerlektüre, und Kienzl fand den Stoff so faszinierend, dass er sich daraus selbst ein Opernlibretto dichtete. Er traf Meißner noch persönlich und holte dessen Zustimmung zur Bearbeitung der Vorlage ein. Die Premiere von „Der Evangelimann“ in Berlin und den anschließenden großen Erfolg der Oper erlebte der bereits schwer kranke ehemalige Polizeijurist allerdings nicht mehr.

Getreu dem programmatischen Motto „Heute schöpfet der Dichter kühn aus dem wirklichen Leben schaurige Wahrheit“ aus dem Prolog zu Leoncavallos „I Pagliacci“ erfand Kienzl gewissermaßen den Verismo, den musikdramatischen Naturalismus, für den deutschsprachigen Kulturkreis noch einmal. Auch der Pagliacci-Komponist schrieb sein Libretto bekanntlich selbst, und auch die Geschichte vom Eifersuchtsmord auf offener Bühne soll wahr sein (Leoncavallos Vater hatte den Fall angeblich als Untersuchungsrichter in Kalabrien auf seinem Schreibtisch). Doch zurück zum „Evangelimann“. Die Brüder Johannes, der katzbuckelnde Talentierte,  und Mathias, der simple aber aufrechte, lieben die selbe Frau, Martha, die sich für Mathias entscheidet. Johannes bringt daraufhin durch Intrige und Meineid Mathias zuerst um Arbeit und Brot und anschließend als Brandstifter ins Gefängnis – das Feuer dafür legt er selbst. Martha begeht Selbstmord. Dreißig Jahre später trifft der nach seiner Kerkerhaft als bettelnder Laienprediger, eben als der titelgebende „Evangelimann“, durch die Elendsquartiere Wiens ziehende Mathias seinen Bruder an dessen Sterbebett noch einmal – dieser gesteht seine Schuld, und Mathias verzeiht ihm.

Die Volksoper hat dazu eine in jeder Hinsicht großartige Produktion auf die Bühnenbretter des Hauses gestellt. Ich war beeindruckt. Hier stimmte so gut wie alles. Zunächst die stimmige Inszenierung von Josef Ernst Köpplinger (Bühnenbild von Johannes Leiacker, Kostüme von Marie-Luise Walek), die die großen und sentimentalen Gefühle ernst nimmt, ihnen jedoch die gefährlich-klebrigen Zuckerguss-Spitzen abbricht. Sie versetzt die Handlung dabei aus dem Vormärz in die Zeit vor und nach dem ersten Weltkrieg, unterlegt also Mathias‘ Leiden in der unschuldig erlittenen Kerkerhaft mit einer politisch-sozialen Katastrophe, einem Umbruch, der aus der ländlichen, oberflächlich sauberen Welt von St. Othmar in das sozial verelendete Wien der Depressionszeit überleitet. Die Schluss- und Sterbeszene verlegt der Regisseur aus Johannes‘ Wohnung in ein Krankenhaus, rahmt sie mit pantomimisch angedeuteten weiteren menschlichen Tragödien ein, und nimmt ihr durch diese Verbreiterung den sonst leicht kitschigen Hautgout.

Das Kain-und Abel-Brüderpaar Johannes und Mathias erlangt durch Sebastian Holecek und Herbert Lippert eindrucksvolle Bühnenpräsenz. Obwohl Herr Lippert als der Tenor die dankbarere Rolle hatte (verdienter Szenenapplaus nach „Selig sind, die Verfolgung leiden“ im zweiten Akt), geht der Bariton doch mit einer Nasenlänge Vorsprung durchs Ziel. Herr Holecek überzeugte durch stimmliche und durch darstellerische Kraft, er erfüllte die Rolle des Bösewichts, des psychisch unrunden, unzufriedenen, vor der Obrigkeit kriechenden Intellektuellen, der Gott verflucht und doch den Glauben wiederfindet, einfach mit Leben. Walter Fink ergänzt den Fächer der tragenden männlichen Stimmen in der Basslage als selbstgerechter, engstirniger Vormund Marthas.

„Der Evangelimann“ ist keine Oper für virtuose Frauenstimmen. Die Martha als jugendlich-dramatischer Sopran tritt nur im ersten Akt auf. Die Magdalena als Mezzosopran hat einige starke Passagen im zweiten Akt. Sie ist auch die psychologisch interessantere Figur, da ihre selbstverleugnende Treue zum „bösen“ Johannes im Grunde unerklärt bleibt. Elisabeth Flechl und Alexandra Kloose als Martha und Magdalena holen aus ihren Rollen jedenfalls das Beste heraus.

Und gleiches gilt auch für die Leistung des Orchesters. Das Volksopernochester hat in den letzten zehn Jahren deutlich an Qualität gewonnen. Gerrit Prießnitz war ein sicherer und umsichtiger Dirigent  Man hatte den Eindruck, dass er die Musik Kienzls in ihren Stärken wie Schwächen versteht und mit Fingerspitzengefühl zu interpretieren wusste. Er trieb weder das wagnerhaft-Pompöse auf die Spitze, noch duldete er ein Abgleiten ins Oratorienhafte im ersten Bild des zweiten Akts, wenn Mathias vor dem Kinderchor im Zinskasernenhinterhof das Evangelium nach Matthäus predigt.

Lang anhaltender, für Volksopernverhältnisse geradezu enthusiastischer Schlussapplaus für alle Mitwirkenden, die sich diesen auch redlich verdient haben.  „Der Evangelimann“ wird leider in der nächsten Saison nicht im Repertoire des Hauses am Währinger Gürtel gespielt werden. Schade!

Published in: on 3. Juli 2011 at 18:22  Kommentare deaktiviert für Überm Abgrund zwischen Kitsch und Verismo  
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Autoprinz contra Kohlenkönig


Operetten-Schnellkritik

Bühne Baden, Sommerarena, 26. Juni 2011

Leo Fall „Die Dollarprinzessin“ (Willner/Grünbaum)

Regie: Wolfgang Dosch  (4. Aufführung in dieser Inszenierung)

Dirigent: Oliver Ostermann

John Couder ….. Fritz Hille

Alice Couder ….. Katja Reichert

Fredy Wehrburg ….. Sebastian Reinthaller

Daisy Gray ….. Laura Scherwitzl

Hans Freiherr von Schlick ….. Alec Otto

Olga ….. Ingrid Habermann

Tom, Couders Bruder ….. Walter Schwab

Dick, Couders Neffe ….. Ronny Hein

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Sommerliches Bühnengeschehen. Es ist eine eigenartige Sache, mit ungefähr 400 Menschen, vorwiegend älteren Semestern, in einem Freilufttheater (gut, zur Pause wurde das vorher geöffnete Glasdach geschlossen) zu sitzen und einem Stück Musiktheater zu lauschen, das in der nächsten oder übernächsten Generation schon zur Kategorie „verlorenes Kulturgut“ gehören könnte.

Leo Falls 1907 im Theater an der Wien ohne nachhaltigen Erfolg uraufgeführte (einige Quellen nennen auch das böse Wort „durchgefallene“) Operette „Die Dollarprinzessin“ spielt in Amerika und spielt mit dem Gegensätzen zwischen alter und neuer Welt. Gleichzeitig erleben wir, jedenfalls in dieser Inszenierung, auch einen mittelgroßen wirtschaftlichen Paradigmenwechsel. Das „alte Geld“, verkörpert durch den jovialen Kohlenbaron und Eisenbahnspekulanten John Couder und seinen Clan, macht Bankrott und wird durch das „neue Geld“, den smarten, frisch eingewanderten Bankierssohn Alfred „Fredy“ Wehrburg („ab jetzt heiße ich Fred W. Castle“) abgelöst, der in Autos und Öl „macht“.

Um den in einer Operette unabdingbaren versöhnlichen Schluss zu gewährleisten, heiratet der frischgebackene „Autoprinz“ die fallierte Dollarprinzessin Alice, die ihn zuvor noch als ihren Angestellten piesacken durfte, und die nun, sozusagen vom Panzer des Goldes befreit, zu ihren Gefühlen für den Ex-Untergebenen stehen kann. Und ein bisserl Geld bleibt dem „Kohlenkönig a.D.“ am Ende doch, da Olga, die überreife Varieté-Schönheit, die ihm Bruder & Neffe, beide Schmarotzer, als russische Gräfin und neue Ehefrau „verkauft“ haben, den Schlingeln ein paar der von Couder gestohlenen und in der Schweiz deponierten Millionen wieder abluchst, weil sie ihren „Johnny-Boy“ eben doch mag.

Wie viel davon tatsächlich die Herren Willner und Grünbaum geschrieben, und wie viel die ungenannt bleibenden Bearbeiter des Musikverlags oder der Bühne Baden gedichtet haben, bleibt im Dunkeln. Mein Operettenführer schildert die Handlung jedenfalls in einigen Punkten ein bisserl anders (so machen die Couders dort etwa nicht Bankrott und John Couder „erkauft“ sich am Schluss die Scheidung von der ihn schnell wieder nervenden Olga).

Das Libretto spielt zwar in Amerika, folgt aber prototypisch den Schemata  der Wiener silbernen Operettenära: seriöses Sängerpaar (Fredy/Alice), Buffopaar (Hans/Daisy) und die komische Alten (John/Olga) haben ihre Auftritte und Duette. Es gibt eine große und mehrere kleine Balletteinlagen und die obligate Trennung des „seriösen“ Liebespaares am Ende des zweiten Aktes. Büromädels klappern geschäftig auf alten Remington-Schreibmaschinen, wenn Alice im ersten Akt noch mit starker Hand die Geschicke des Couder-Trusts lenkt. Sonst aber bleibt die Musik mehr bei den obligaten Walzerklängen.

Die Aufführung kam nur an wenigen Stellen über Stadttheaterniveau – allerdings erstklassiges solches – hinaus. So z.B. beim großen Duett Fredy-Alice im zweiten Akt. Da blitzte plötzlich (fast) echtes Gefühl zwischen Sängerin und Sänger auf, und der Funken der Inspiration sprang auch auf den Dirigenten und das bis dahin eher uninspiriert fidelnde, tutende und trommelnde Orchester über.

Dem „seriösen“ Paar gebührt auch eindeutig der Löwenanteil am musikalischen Lorbeer. Mit Sebastian Reinthaller hat die Bühne Baden auch einen erstklassigen Tenor für ihre „Sommerstagione“ engagiert, der sich für die kleine Partie des Fredy hörbar nicht übermenschlich anstrengen musste, dafür aber umso launiger spielen konnte. Die aus der  Schweiz stammende Sopranistin Katja Reichert verlieh der Titelheldin makelloses musikalisches Profil, blieb aber spielerisch eine Spur blasser. Sie konnte dem Publikum charakterlich weder die arrogant-kühle Finanzmagnatin noch das gehemmt-neurotische Töchterlein, also die beiden Seiten ihrer Rolle, vermitteln. Alec Otto als Hans von Schlick litt paradoxerweise darunter, dass seine Stimme für eine Tenorbuffo-Rolle und die Größe der Bühne fast ein wenig zu kraftvoll und heldenhaft klingt. Als seine Partnerin machte Laura Scherwitzl in der Soubrettenrolle der Milliardärsnichte Daisy Gray gute stimmliche Figur. Als Komikerpaar durften Fritz Hille (ein, wie ich der Homepage des Theaters entnehmen konnte, „altes Schlachtross“ der Bühnen- und Fernsehunterhaltung in der DDR) und Ingrid Habermann für die obligate Dosis Seniorensex sorgen. Rätselhaft blieb freilich auch in Herrn Hilles Darstellung, wie und wann John Couder, dieser gut gelaunte Alte, der sein Hauspersonal hauptsächlich unter ruinierten europäischen Adeligen rekrutiert, vom Börsenhai zum Tanzbären mutieren konnte.

Maestro Oliver Ostermann leitete das Badener Theaterorchester mit eleganter Gestik und Autorität, dennoch konnte er, wie schon ansatzweise beschrieben, Leo Falls Partitur nur an wenigen Stellen mehr entlocken als sommerlich-seichtoperettiges Hm-ta-ta.

Womit auch schon alles über die Inszenierung von Wolfgang Dosch gesagt wäre. Sie strudelt sich zwar bemüht ab, ein wenig von Drama und Absurdität der aktuellen Finanzwelt in die vom Jahr 1900 in die 1920er-Jahre verpflanzte Handlung zu projizieren, bringt aber am Ende doch nur ein paar müde Extra-Witzchen von Fitnessstudios in der Chefetage und Schwarzgeldkonten in Liechtenstein über die Rampe.

Für einen getippten Extra-Vorhang bitte ich nun zum Schluss die Damen und Herren des Balletts (Choreografie: Mátyás Jurkovics) auf die Bühne!

Freundlicher, anhaltender Applaus, für ein Publikum aus älteren, gemessen-bürgerlichen Semestern war es fast die Extase. 😉

Es ist Sommer, Freundinnen und Freunde, Zeit, alle Dollars und €uros dieser Welt zu vergessen und bei leichter Musik zu entspannen!

Published in: on 28. Juni 2011 at 20:14  Kommentare deaktiviert für Autoprinz contra Kohlenkönig  
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Am musikalischen Strande Liguriens


Opern-Schnellkritik

Wiener Staatsoper, 24. Mai 2011

Giuseppe Verdi „Simon Boccanegra“ (2. Fassung Piave/Boito)

Regie: Peter Stein (50. Aufführung in dieser Inszenierung)

Dirigent: Myung-Whun Chung

Simon Boccanegra ….. Andrzej Dobber

Jacopo Fiesco ….. Roberto Scandiuzzi

Paolo Albiani ….. Marco Caria

Amelia ….. Fiorenza Cedolins

Gabriele Adorno ….. Francesco Meli

Pietro ….. Sorin Coliban

Hauptmann ….. Carlos Osuna

Dienerin ….. Simina Ivan

—–

Eine Aufführung, die beim Schlussapplaus leider etwas unter ihrem Wert geschlagen worden ist.

Die sängerische Krone teilen sich zwei Herren: Francesco Meli brachte mit seiner sicher geführten, perfekte „Italianità“ verkörpernden, wohltönenden Tenorstimme einen sehr guten Gabriele Adorno über die Rampe. Roberto Scandiuzzi gab der Rolle des unerbittlichen Patriziers Fiesco Profil und schöne bassliche Tiefe.

Andrzej Dobber, für den ursprüngliche vorgesehenen, erkrankten Leo Nucci eingesprungen, verlieh dem Titelhelden Gestalt, doch aus unerfindlichen Gründen blieb er gerade in seiner großen Szene im 1. Akt („Brudermörder! Plebejer, Patrizier…..So rufe ich: Frieden, Liebe!“) blass. An der stimmlichen Form kann es nicht gelegen sein, doch einem solch leisen, unleidenschaftlichen Dogen Simon hätten die streitenden Parteien in Senat und Volk von Genua wohl kaum Gehör geschenkt und sich am Ende doch die Köpfe eingeschlagen.

Und die weibliche Hauptrolle? Fiorenza Cedolins, eine wunderschöne und darstellerisch präsente Sängerin mit schönem Timbre (auf ihr Tremolo sollte sie allerdings ein wenig achten) als Amelia. Doch in dieser „Männeroper“ rund um die Macht im Staat und die Gewalt über Frauen und Töchter muss die Sopranistin, trotz einer tadellosen sängerischen Leistung, ein wenig im Hintergrund bleiben.

Marco Caria in der Rolle des aus unglücklicher Liebe zu Amelia vom Revolutionär und politischen Drahtzieher zum infamen Verschwörer und Giftmörder mutierenden Paolo gehörte ebenfalls zu den bühnendominanten Männern. Man merkt, dass Verdi in diese Rolle für den Comprimario-Bariton einiges an musikalischer Charakterisierungskunst gesteckt hat (gewissermaßen eine Vorstudie für den Jago). Herr Caria verlieh der trotz allem undankbaren Rolle große stimmliche Präsenz und verdient es, ausdrücklich lobend erwähnt zu werden.

Der nachhaltige Schlussapplaus für den Dirigenten dieser Vorstellung, Herrn Myung-Whun Chung, der an diesem Abend sein Debüt an der Wiener Staatsoper gegeben hat, erschließt sich mir nicht ganz. Herr Chung leitete ein routiniert und fehlerfrei spielendes Orchester, seine Zeichengebung ist ebenso präzise wie gefühlvoll, doch die kleinen, wichtigen Details, die Wechsel in Tempo und Lautstärke, die das intellektuelle, künstlerische Profil im Gefühlsstrom der Verdischen Musik ausmachen, sind seine Sache meines Erachtens nicht.

Was soll man noch über die Inszenierung von Peter Stein sagen? Sie ist schön. Sie stört sicher keine/n traditionsbewusste/n Operngeher/in. Sie ist aber auch nur irgendwie eine Kopie der Inszenierung von Giorgio Strehler, die ich in den 1980ern auf der Bühne der Wiener Oper gesehen habe, nur mit neuen Bühnenbildern und Kostümen. Nichts Neues an der ligurischen Front, gewissermaßen.

Published in: on 25. Mai 2011 at 10:27  Kommentare deaktiviert für Am musikalischen Strande Liguriens  
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Er bleibt wohl der arme Jonathan


Wenn man sich etwas besonders wünscht, dann wird meistens nichts draus!

Vor ein paar Wochen habe ich mir über Amazon.com eine CD-Gesamtaufnahme der Operette „Der arme Jonathan“ von Carl Millöcker bestellt. Die heimliche Liebe zum Genre und zum Komponisten kann ich an dieser Stelle wohl schwer leugnen.

„Der arme Jonathan“, uraufgeführt anno 1890 im Theater an der Wien, ist ein Spätwerk des Komponisten. Und es ist ein in mehrfacher Hinsicht ungewöhnliches Werk. Die Handlung wirkt wie ein moralisches „Besserungsstück“ Raimundscher Art im Mantel einer Wiener Operette. Die Schauplätze sind das Boston, New York und Monte Carlo von 1890, womit sich allerdings nur die Faustregel bestätigt, dass eine gute Wiener Operette überall spielen darf, bloß nicht in Wien. Einige Memorabilia und Neuerungen aus Millöckers Gegenwart blitzen textlich und musikalisch auf: Frauenemanzipation, Studentinnen, Telegraph, Phonograph und Dampflokomotive.

Ich hatte gehofft, etwas zu entdecken, das sich für eine Wiederentdeckung auf der Bühne eignen könnte. Denn die wenigen musikalischen Nummern, die ich aus dem Stück schon einmal gehört hatte, erschienen inspiriert und von höchster musikalischer Qualität zu sein.

Die Geschichte vom tollpatschigen Küchengehilfen Jonathan Tripp und dem misanthropischen Millionär Mr. Vandergold, die sich beide aus Lebensüberdruss erschießen möchten und statt dessen beschließen, ihre Rollen im Leben zu tauschen, hat tatsächlich einiges Potenzial. Natürlich wird Jonathan, der sozial wie geschäftlich überforderte „Prolet als Millionär“, so wie es sich im bürgerlichen Lach-Theater eben gehört, in seinem neuen Leben ebenso wenig glücklich wie der anscheinend mittelschwer manisch-depressive Vandergold, der feststellen muss, dass es am unteren Ende der Nahrungskette auch nicht aufrichtiger und menschlicher zugeht als an der Spitze der High Society. Am Ende sind beide irgendwie froh, ihr altes Leben zurückzubekommen.

Wie viele Werke des Genres leidet auch diese Operette aber an einem dünnen Libretto, sozusagen einem Zweiakter, den man krampfhaft zum Dreiakter ausgewalzt hat. Die Herrn Hugo Wittmann und Julius Bauer, die es zusammengestoppelt haben, sind weder vorher noch nachher durch einschlägige Ruhmestaten bekannt geworden.

Vielleicht lag es auch an der von mir erworbenen Aufnahme [1] (grauenhafte Tonqualität übrigens, möglicherweise ein illegaler Mitschnitt einer Aufführung) und der Bearbeitung, aber auch musikalisch vermag das Stück leider den entscheidenden Funken der Begeisterung bei der Zuhörerin nicht zu zünden. Während bei anderen Bühnenwerken der sogenannten leichten Muse die Musik ein langweilig-uninspiriertes Libretto zum Leben zu erwecken vermag, ist Carl Millöcker dieses Kunststück, das er in „Gasparone“ noch mit links vollführt hat, im „Armen Jonathan“ leider nicht gelungen. Auch die Musik macht aus den Schemenfiguren des Textbuchs leider keine Charaktere. Dazu kommen die üblichen Unsicherheiten über die Fassung (es gibt mehrere, wohl gutgemeinte, dramaturgische und muskalische Neu-Verwurstungen), sodass man am Ende nicht mehr weiß, ob das Stück nun eine Ouvertüre hat (die Aufnahme hat keine, es gibt aber zumindest eine, eventuell von fremder Hand arrangierte und recht zündende Potpourrifassung einer solchen), und ob Harriets Walzerlied „Ach wir armen Primadonnen!“, die wohl berühmteste Einzelnummer, überhaupt ein Original ist, da das musikalische Hauptmotiv daraus hier als Teil einer Ensembleszene auftaucht. Man wünscht sich eine Partitur zur Hand, doch ist vermutlich nicht einmal sicher, ob es eine mit dem Imprimatur des Komponisten versehene solche überhaupt gibt.

Es bleiben einige witzige Ensembleszenen im Gedächtnis: das Auftrittslied des Titelhelden, der Chor der streikenden Dienstboten im dritten Akt (mit dem Zitat von „Swanee River“ , offenbar der einzigen amerikanischen Melodie, die dem Komponisten geläufig war), die amüsante Szene von Quicklys reisender (und schwer indisponierter) Operntruppe, und das war’s dann auch mehr oder weniger schon.

Ich fürchte fast, dieser Jonathan wird „arm“ bleiben und den Weg zurück auf die Bühne leider nimmermehr finden!

[1] „Der Arme Jonathan“, Life-Mitschnitt (7. 11. 1980, Aufnahmeort nicht angegeben), Kölner Rundfunkorchester und -chor, Dirigent: Leopold Hager, Mitwirkende: Werner Hollweg (Vandergold), Rüdiger Wohlers (Jonathan Tripp), Benno Kusche (Tobias Quickly), Hildegarde Herschele (Harriet), Dora Koschat (Molly), erschienen auf Gala/IMC Music Ltd. Nr. GL 100.781 (die 2 CDs enthalten als Bonus Tracks noch einen sehr interessanten historischen Querschnitt des „Bettelstudenten“ aus Berlin von ca.  1930 mit Richard Tauber).

Published in: on 11. April 2011 at 18:15  Kommentare deaktiviert für Er bleibt wohl der arme Jonathan  
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