Schläfer, Verblendete und ein Drahtzieher, der im Schatten bleibt


„Die Schlafwandler – Wie Europa in der Ersten Weltkrieg zog“ von Christopher Clark (übersetzt von Norbert Juraschitz), gelesen als Hardcover (3. Auflage 2013) aus dem Verlag DVA, ISBN 978-3-421-04359-7

Das für mich vielleicht Interessanteste an diesem Buch ist, wer darin – wie in fast allen Büchern über den Ausbruch des Ersten Weltkriegs – nicht vorkommt. Fast genau heute vor 100 Jahren, am 16. März 1914, setzte der Ministerpräsident der „im Reichsrat vertretenen Königreiche und Länder“ (Österreich, Cisleithanien) jenes innenpolitische Räderwerk in Gang, das in den Krieg führte. Karl Reichsgraf von Stürgkh, ein aristokratischer Grundbesitzer aus der Steiermark, ließ Kaiser Franz Joseph I. jene Entschließung unterschreiben, die faktisch dem seit 1867 währenden Experiment, die österreichischen Länder der Habsburgermonarchie nach demokratischen Regeln zu regieren, ein Ende setzte. Offiziell wurde das Abgeordnetenhaus des Reichsrats nur vertagt. Man kann aber davon ausgehen, dass Stürgkh nicht die Absicht hatte, die Volksvertreter, solange er im Amt war, je wieder zu versammeln.

Natürlich war Stürgkh klar, dass er sich auf Dauer bei diesen Verhältnissen schwer an der Macht halten konnte. Solange er das Vertrauen des Monarchen hatte, konnte er seine Kabinettskollegen, deren Unterschriften er unter dem Text neuer Notverordnungen brauchte, auf Linie halten. Aber da war die Frage, ob man ohne Gesetzesbeschluss des Reichsrats ein Budget erstellen konnte? Und was würde geschehen, wenn etwa die Sozialdemokratische Partei, deren politische Kampagnen für das allgemeine gleiche Wahlrecht in den Jahren 1905 bis 1907 wesentlich zu dessen Einführung beigetragen hatten, wiederum tausende Arbeiter zu Demonstrationen gegen die Diktatur des Ministerpräsidenten auf die Straße rief? Würde der greise Kaiser im Fall der Fälle das Standrecht verhängen und das Militär gegen das Volk schicken, so wie es der russische Zar im Jahr 1905 getan hatte?

Karl Reichsgraf von Stürgkh (1859 bis 1916) Quelle: Wikimedia Commons

Karl Reichsgraf von Stürgkh (1859 bis 1916) Quelle: Wikimedia Commons

Das waren Fragen, über die man im Wien des Frühjahrs 1914 mehr oder weniger laut diskutierte. Viel bezeichnender war aber, dass Stürgkhs Diktatur auf so wenig Widerstand stieß. Das 1907 und 1911 demokratisch gewählte Parlament hatte sich als Tollhaus erwiesen, als amorphe Männermasse ohne Richtung, ohne Disziplin, ohne fassbare Mehrheiten und ohne sozialen Zusammenhalt. Es tat sich durch andauernden Streit (bis zu Handgreiflichkeiten im Plenum), Schreiduelle, Filibusterreden und wechselseitige Obstruktionen (z.B. das berüchtigte „Pultdeckelkonzert“, bei dem man durch Klappern die Reden gegnerischer Mandatare störte)  hervor. Man verstand verbreitet, dass ein Regierungschef auf solche Leute weder bauen, noch von ihnen abhängig sein wollte.  Immer mehr verbreitete sich die Ansicht, dass ein Vielvölkerstaat wie Cisleithanien nicht demokratisch reformiert sondern bestenfalls, nach dem Rezept Bismarcks der Jahre 1864 bis 1871, durch Blut und Eisen zusammengeschweißt oder auch nur zusammengehalten werden konnte. Man hasste in Cisleithanien die Ungarn für ihren nationalen Egoismus, bewunderte sie aber gleichzeitig für die Effektivität,  mit der sie die Interessen der magyarischen Eliten bündelten und durchsetzten.

So schwor man in Österreich, unbewusst und Stück für Stück, der Demokratie ab und begann, in einem Krieg eine praktikable Lösung der inneren und äußeren Probleme des Reichs zu sehen. Demokratie war keine Lösung. Sie hatte ihre Chance gehabt und versagt. Demokratie schien vielmehr das Problem zu sein. Die Lösung, das war in den Augen vieler eben „Blut und Eisen“, oder, wie es eine andere, vielfach variierte Phrase ausdrückte: „Lieber ehrenvoll im Kampf zu Grunde gehen als bei lebendigem Leib verfaulen!“

Auch Clark widmet Stürgkh nur ein paar Zeilen und der innenpolitischen Lage der Habsburgermonarchie eine oberflächliche Analyse. Ich war, wenn ich ehrlich bin, von seinem Buch, das mit vielen Vorschusslorbeeren auf mein Lesepult gekommen ist, leicht enttäuscht. Vielleicht nehme ich als Österreicherin Österreich auch zu wichtig, aber ich kann Clarks Befund als Historiker, dass die österreichisch-ungarische Monarchie nicht dem Tode geweiht war, und die Ursache des Ersten Weltkriegs in einer Kaskade strategischer Fehleinschätzungen im Viereck Deutschland-Russland-Großbritannien-Frankreich zu suchen ist, nicht ganz teilen. Aus meiner Sicht hatte Österreich-Ungarn den Finger am Abzug. Das Geflecht der Militärbündnisse war so straff gespannt, und das Räderwerk der strategischen (Angriffs-) Pläne so unerbittlich, dass man am Wiener Ballhausplatz die Folgen eines Angriffs auf Serbien durchaus berechnen konnte. Also haben wir da folgende Faktoren:

  1. Österreich-Ungarn als zerfallende Großmacht, davon Cisleithanien mit einer Regierung in einer schier ausweglosen innenpolitischen Sackgasse, ein Staatengebilde mit unübersehbaren suizidalen Neigungen.
  2. Die Armee der Habsburgermonarchie mit ihrer abgehobenen, sozialdarwinistisch geprägten Offizierskaste, deren Denkweise der Generalstabschef Franz Conrad von Hötzendorf, der Apologet eines „Präventivkriegs“, perfekt verkörperte.
  3. Eine Oberschicht, die insgesamt – aus der Erfahrung der Jahre 1864 bis 1871 heraus – dem Axiom anhing, dass Deutschland überlegen, allmächtig und unbesiegbar war, dass also ein Krieg an der Seite Deutschlands ein Krieg auf der Siegerseite sein musste.

Natürlich hätte Deutschland Österreich-Ungarn in den Arm fallen können. Natürlich hätte Russland Serbien seine Unterstützung versagen und es so zu einer Kapitulation vor der Habsburgermonarchie nötigen können. Natürlich hätten Frankreich und Großbritannien Russland in die gleiche Richtung drängen können. Doch warum? Der Punkt ist, dass wir über die Schrecken des Ersten Weltkriegs Bescheid wissen. 1914 konnten sich höchstens fantasiebegabte Militärs mit aktuellen Kriegserfahrungen (also etwa Militärbeobachter aus dem russisch-japanischen Krieg von 1904/1905) die Schrecken eines Grabenkriegs unter Einsatz moderner Waffen vorstellen. Alle anderen sahen einen Krieg als ehrenhaftes und mehr oder weniger unvermeidliches Ereignis, als eine Art von reinigendem Gewitter.

Und so geschah es.

Und Graf Stürgkh? Der saß mit am Tisch, als der gemeinsame Ministerrat der Habsburgermonarchie jeweils das Ultimatum und die Kriegserklärung an Serbien beriet und beschloss. Aber die Schuld am Krieg, die sucht Clark, wenn schon, dann eher beim k.u.k. Außenminister Graf Berchtold oder bei General Conrad, nicht jedoch bei der formellen Nummer Zwei der politischen Hierarchie des Habsburgerreiches. Ich wundere mich immer wieder, wie der Mann es geschafft hat, als Schatten durch die Weltgeschichte zu huschen! Seine Ende war spektakulär und seiner Rolle irgendwie angemessen. Am 21. Oktober 1916 streckte ihn der Linkssozialist Friedrich Adler, der ihm beim Mittagessen in einem belebten Restaurant in der Wiener Innenstadt aufgelauert hatte, mit mehreren Schüssen aus einem Revolver nieder. Kaiser Karl wagte es nicht mehr, Friedrich Adlers Todesurteil vollstrecken zu lassen. 1918 begnadigte er ihn sogar und ließ ihn aus dem Gefängnis entlassen.

Und, ja, lesen sie Clarks Buch, es ist nüchtern geschrieben und bietet doch ein paar neue Perspektiven. Und verzeihen sie ihm bzw. den deutschen Übersetzern kleine Fehler wie den Fluss „Leithe“ oder die mehrfache Verwechslung des britischen Ersten Seelords (1914 der ranghöchste Admiral und strategischer Führer der Royal Navy) mit dem Ersten Lord der Admiralität (politischer Chef der britischen Flottenverwaltung, 1914 ein Amt mit Kabinettsrang und von Winston Churchill bekleidet). Falls sie ein wirklich gutes und fesselndes Buch über die Vorgeschichte des Ersten Weltkriegs lesen wollen, greifen sie zu Robert K. Massies „Dreadnought“ (deutscher Titel: „Die Schalen des Zorns“), der die wichtigsten Wurzeln des Krieges in der Entfremdung zwischen Deutschland und Großbritannien und dem Flotten-Wettrüsten beider Nationen zwischen 1898 und 1914 erkennt.

Published in: on 6. April 2014 at 21:58  Kommentare deaktiviert für Schläfer, Verblendete und ein Drahtzieher, der im Schatten bleibt  
Tags: , , , , , ,

Das Fettauge des Gesetzes


Kirbisch oder der Gendarm, die Schande und das Glück“ Ein episches Gedicht von Anton Wildgans, gelesen als Hardcover aus dem Verlag Styria (1995), ISBN 3-222-12278-4

Das niederösterreichische Bergdorf Übelbach am Volland erlebt mitten im ersten Weltkrieg einen Einbruch von Zwietracht und Unmoral in die scheinbar festgefügte bäuerliche Welt. Während die „schwarze, blutige Kriegsfaust“ zunehmend Menschenopfer aus der Mitte der Dörfler fordert, und die Kriegsgesetze in Form von Rationierungen und Requirierungen die lokale Wirtschaft zu lähmen drohen, kämpfen der Dorfpfarrer und Tobias Pschunder, der demagogisch begabte und habgierige Gastwirt, um die Seelen der Menschen. Pschunder gewinnt, stürzt den hilflosen Ortsvorsteher und macht sich den faulen und feigen Gendarmen Kirbisch gefügig, in dem er Fähnrich Fleps, einen gewandten Verführer, auf dessen junge Frau ansetzt und diese so in einer ménage a trois zu erotischen Höchstleistungen animiert. Kirbisch verfällt schließlich der Versuchung von Eros und Fresssucht, drückt  das Auge des Gesetzes im Fall der Lebensmittelbewirtschaftung fest zu und ermöglicht es Pschunder so, Übelbach als Modesommerfrische für „Kettenhändler und Schieber“ zu etablieren. Während der Pfarrer seinen Glauben an Gott und das Gute verliert und nach einem Herz- oder Schlaganfall dem Tode entgegendämmert, verlässt Cordula, die von Fleps geschwängerte und dann sitzengelassene Kellnerin und Dienstmagd bei Pschunder, am Ende des Epos traurig aber auch befreit das Dorf Übelbach, wo man ihr im wahrsten Sinne des Wortes übel mitgespielt hat, um ihr Kind anderswo zur Welt zu bringen.

„Dieses Buch ist ein Denkmal aus Österreich“ zitiert Felix Mitterer in seinem Nachwort zur von mir gelesenen Ausgabe aus Stefan Zweigs Hommage an den sonst heute fast vergessenen Anton Wildgans.

In der Tat ist dieses Versepos gar nicht der kurios-betuliche  Reim-Zungenbrecher, als der es in meiner Schulzeit noch in Lesebuchhäppchen verabreicht wurde. Es ist eine erbarmungslose Berg-und-Talfahrt, ein wilder Zick-Zack-Kurs durch alle Höhen und Tiefen der Geisteswelt der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Der Dichter lotet in den Abgründen der menschlichen Gemeinheit, er schwingt die satirische Geißel gegen Spießertum und Engstirnigkeit, suhlt sich gleich darauf im Schlamm der Anti-Modernität und nippt am Becher von „Blut und Boden“, um schließlich innere Höllenfahrten und die Vorahnung vom Zusammenbruch der gesellschaftlichen und moralischen Ordnung zu inszenieren.

Denn es beginnt bereits in den ersten Versen mit dem klaren Bekenntnis, dass in diesem Buch alle gleich- und gemeinsam des Teufels Kinder sind:

„Übelbach heißt die Gemeinde am Hang des gewaltigen Volland,
Wo die Geschichte von Schande und Glück des Gendarmen sich zutrug.
Volland nannten die Väter verschollener Läufte den Teufel,
Und so erzählt auch die Sage von jenem Ursteingebirge,
Daß es der Luzifer sei, der Engel des Aufruhrs, den Gottes
Machtspruch aus Himmeln verstieß, und hierlands fiel er zur Erde.“

Damit ist eigentlich schon alles gesagt. Übelbach am Volland, ein leicht verzerrtes Spiegelbild von Wildgans‘ langjährigem Sommerfrischeort Mönichkirchen am Wechsel, sitzt also auf „Luzifers Flanke“, die menschlichen Tragödien und Komödien spielen gewissermaßen auf des Teufels dickem, fetten Hintern.

Des Teufels ureigenster Spielplatz sind Krieg und Gewalt. Ohne den Hintergrund des ersten Weltkriegs wäre dieses Werk auch gar nicht denkbar. Das hörbare Pochen von Luzifers Herz im Inneren des Volland kündet der Sage nach von Tod und Not. Es wird – scheinbar – am Ende des Elften Gesanges (von Zwölfen) zu hören sein, wenn zu Cordulas öffentlicher Demütigung am nächtlichen Höhepunkt eines orgiastischen Kirtagsfestes weit unten im Tal eine Explosionskatastrophe in einer Munitionsfabrik symbolisch die „Totenfackel des Reiches“ entzündet.

Ganz besonders gut ist Wildgans meiner Ansicht nach auch dort, wo er in Versform praktische politische Grundfragen erörtert. Was zählt, schaffender Egoismus oder barmherzige Solidarität, der Einzelne, die autonome Gemeinde oder das staatliche Ganze, die „große Gesellschaft“?

Im „Kirbisch“ wird diese Frage schlagend, als im Sechsten Gesang ein militärisches Requirierungskommando Übelbach heimsucht, und die zwecks Vermarktung in der Sommerfrischesaison illegal gehorteten Vorräte der Bauern und Gewerbetreibenden großteils konfisziert werden. Große Wut und geballte Fäuste gegen „die da oben“! Vergebens appelliert der Pfarrer an die Solidarität der Dörfler mit der bereits hungernden Bevölkerung in den Städten und Fabriken. In einem demagogischen Glanzstück drängt ihn der diabolische Wirt Pschunder ins Abseits, wenn er der christlichen Nächstenliebe einen nicht völlig absurden, wenn auch klar populistischen, halb kommunitaristischen, halb partikularistischen Gemeinde-Zentrismus entgegensetzt:

„Mag dann was immer geschehen, und mag auch der schreckliche Mordkrieg
Enden wie immer er will! Wenn dann eine jede Gemeinde
So für sich selber gesorgt und derart fürs Ganze gewirkt hat,
Wird sich, so tief es auch falle, das Land von neuem erheben!
Ja, aus der Kraft der Gemeinden, aus vielen einzelnen Zellen
Wird sich die Wabe erneuern, der Bienenstock, welcher der Staat ist!
Das, meine Herren und Frau’n, sehn wir mit dem geistigen Auge!
Das scheint mir, mit Verlaub, der echte und rechte Gemeinsinn!“

Schöner hätte es heute ein Hofdichter des Städte- oder Gemeindebundes auch nicht formulieren können! Und man darf wohl annehmen, dass unser Dichter seinem bösartigen Demagogen Tobias Pschunder, kurz nach diesen Worten schon per Akklamation Ortsvorsteher (Bürgermeister) von Übelbach, da auch ein paar eigene Gedanken in den Mund gelegt hat. Beantwortet werden die aufgeworfenen Fragen von Wildgans im Grunde jedoch nicht.

Wenn man mit Bedacht und Offenherzigkeit in diesem Buch liest, ohne es ganz unkritisch zu betrachten, dann kann man sich nicht nur an der Schönheit der Verse und der Lebhaftigkeit der Charakterzeichnungen erfreuen. Der Dichter führt uns durch Gaststuben und lässt uns mit spießigen Honoratioren saftige Schweinskotelette und Torten verspeisen, die man fast riechen kann. Wir nehmen am Fronleichnamsumgang und am Theresienkirtag teil und hören zu, wie der Foxtrott und andere Modetänze mit der Volksmusik streiten. Das Epos beschreibt auch einen jahreszeitlichen Zirkel mit allen seinen Naturwundern, vom Hochfrühling bis zum tiefen Winter. Und dieses Buch ist auch eine Zeitmaschine, die uns fühlen und denken lässt, wie Menschen vor nun schon fast einhundert Jahren gefühlt und gedacht haben.

Published in: on 6. Juli 2011 at 23:46  Kommentare deaktiviert für Das Fettauge des Gesetzes  
Tags: , , , , ,

Auf Patrouille im Schattenreich


Der Baron Bagge“ Eine Novelle von Alexander Lernet-Holenia (1936), gelesen als Hardcover aus dem Paul Zsolnay Verlag (1998), ISBN 3-552-04832-4

Wien, irgendwann in den 1920ern. Auf einer Abendgesellschaft schlichtet der Erzähler der Einleitung einen Ehrenhandel zwischen dem Titelhelden und einem anderen Gast und wird daraufhin von Baron Bagge gebeten, sich die Hintergründe des Streits (Bagge wurde bezichtigt, schon zwei Frauen durch die Weigerung, sie zu heiraten, in den Selbstmord getrieben zu haben) erzählen zu lassen.

Im Norden Ungarns, Februar 1915. Bagge, nun in der Rolle des Erzählers, hat bei Kriegsausbruch ein Leben als Weltenbummler und Müßiggänger an den Nagel gehängt und ist als Oberleutnant zur vierten Schwadron des (fiktiven) k.u.k. Dragonerregiments „Marchese und Graf von Gondola“ eingerückt. Seine Einheit erhält Befehl, vor einer geplanten Gegenoffensive von Tokaj aus die Stellungen der über die Karpaten in Ungarn eingebrochenen russischen Armee aufzuklären.

Zwischen dem kommandierenden Offizier, Rittmeister Semler zu Wasserneuburg, und Bagge sowie den Leutnants Maltitz und Hamilton kommt es bald zu Spannungen. Semler entpuppt sich als selbstherrlicher und unberechenbarer „Narr“. Maltitz ist zu jung, Hamilton hat als amerikanischer (!) Freiwilliger (und angedeuteter Homosexueller) zu wenig Sozialprestige, sodass Bagge als einziger dem Rittmeister auf Augenhöhe widersprechen kann und dies auch tut.

Schließlich befiehlt Semler, kaum hat man mit dem Feind Fühlung aufgenommen, entgegen den Befehlen des Divisionskommandos einen Frontalangriff auf die russische Stellung, die bei dem Dorfe Hor die Brücke über den Fluß Ondawa sichert.

Wider Bagges Erwarten brechen die Dragoner durch und erzwingen den Übergang über die Ondawa. Doch irgendetwas Unerklärliches ist gleichzeitig geschehen. Die Schwadron verliert den Kontakt zum Feind und zur eigenen Front und irrt durch eine menschenleere, düster-wolkenverhangene Landschaft. Schließlich erreichen die Reiter die Stadt Nagy-Mihaly (das heute slowakische Michalovce), für deren Einwohner der Weltkrieg mit seinen Schrecken und Gefahren rätselhafterweise kein Thema zu sein scheint. Dort, am äußersten Rand des ihnen zugewiesenen Operationsgebiets, beziehen sie zunächst Quartier.

Die Offiziere werden schnell ins erstaunlich lebendige Gesellschaftsleben des Städtchens integriert. Bagge lernt in Charlotte Szent-Kiraly, der Tochter eines adeligen Gutsbesitzers, eine Frau kennen, mit der ihn einst schon seine verstorbenen Mutter verheiraten wollte. Charlotte ist überirdisch schön, klug und charmant, Bagge weiß sie nur mit antiken Göttinnen zu vergleichen und verfällt ihr in dem Augenblick, als sie ihm beim Einzug der Dragoner in Nagy-Mihaly gegenübertritt und ihn spontan küsst. Nur ihr scheinbar fehlender Wimpernschlag und die rätselhafte Tatsache, dass sie durch die geschlossene Tür in Bagges Zimmer kommen konnte, um mit ihm zu schlafen, irritieren ihn.

Währenddessen jagt Semler Patrouille um Patrouille hinaus und beginnt eine fanatische, verzweifelte Suche nach „dem Feind“. Doch die russische Armee ist wie vom Erdboden verschluckt, und außerhalb Nagy-Mihalys findet sich kein ansprechbare Menschenseele. Und auch die Division, zu der die Gondola-Dragoner eigentlich gehören, rückt nicht nach. Schließlich befiehlt der Rittmeister den Aufbruch, um mit der Schwadron auf eigene Faust die Karpaten zu überschreiten.

Kurz vor dem Auszug aus Nagy-Mihaly heiraten Bagge und Charlotte in einer eiligst anberaumten kirchlichen Zeremonie.

Die Reiter ziehen noch mehr als drei Tage durch eine zunehmend unwirkliche und gespenstische Landschaft nach Norden. Bereits jenseits der Karpatenpässe, vor einer goldbeschlagenen Brücke über den scheinbar aus fließenden Glasscherben bestehenden Fluß San, wird sich Bagge seines zunehmenden Realitätsverlustes bewusst. Er weigert sich, die Brücke zu überqueren, reißt sein Pferd herum….

….und erwacht. Er liegt schwer verwundet auf der Brücke von Hor über die Ondawa. Semler hat die Schwadron nicht zum Sieg sondern, wie von Bagge ohnehin erwartet, in den Untergang im russischen Artillerie- und Maschinengewehrfeuer geführt. Bagge wird als einer der wenigen Überlebenden vom Schlachtfeld geborgen und im Lazarett gesundgepflegt. Dort erfährt er die Wahrheit. Alle folgenden Ereignisse waren ein Traum, ein Nahtoderlebnis. Alle Menschen, denen er begegnet ist, waren in Wahrheit die Geister bereits Verstorbener (Charlotte und ihre Familie kamen bei der Plünderung Nagy-Mihalys durch die Russen ums Leben) oder Seelen auf dem Weg ins Jenseits.

Bagge berichtet noch, wie er den Ritt der vierten Schwadron nach dem Krieg mit seinem Automobil nachvollzogen und alle Plätze (und auch Charlottes Grab) nochmals im nüchternen Diesseits besucht hat. Er fühle sich Charlotte, obwohl diese viel weniger schön gewesen sein soll als die Charlotte seiner Vision, weiterhin verbunden und warte, jedenfalls deutet er dies an, auf den Tag, an dem er sie im Jenseits wiedersehen werde. Deswegen könne er auch keine andere Frau heiraten. Die mysteriöse Brücke über den San, die im Traum die letzte, unwiderrufliche Grenze zwischen „Hier“ und „Drüben“ markierte, habe er zwar wiedergefunden aber auch beim zweiten Versuch nicht überqueren können. An ihr seien Ausbesserungsarbeiten im Gang gewesen, aber er hätte es wohl auch so und so nicht gewagt, sie zu überschreiten.

Es gibt Bücher, die das Potenzial eines Literaten „in einem Guss“, in kurzer, nur einmal gelungener Perfektion zum Ausdruck bringen. Für Alexander Lernet-Holenia und sein Schaffen ist diese Novelle besagtes Schlüsselwerk. Vieles an seinem Schaffen ist Wiederholung und Variation, „Der Baron Bagge“ aber ist Meisterschaft. Wer diese Novelle gelesen hat, kennt die Stärken des Autors als Konzentrat.

Lernet-Holenia schreibt hier in einem klaren, ruhigen, stilistisch wunderbar austarierten Deutsch. Ob Kriegsereignisse, Abendgesellschaften oder unheimliche Stimmungen, stets trifft er ungekünstelt den richtigen Ton. Menschen skizziert er oft nur mit wenigen Worten, und man sieht sie dennoch plastisch vor sich: den bubenhaft-altklugen Leutnant Maltitz, den nervös-arroganten Rittmeister Semler, den – wie man heute sagen würde – „supercoolen“ Amerikaner Hamilton, der sich nur in Gesellschaft von Männern wohlfühlt, und den leutselig-überdrehten Vater Charlottes, den alten Szent-Kiraly.

Auf Charlotte Szent-Kiraly hingegen verwendet der Autor besondere Sorgfalt. Ihr Äußeres wie ihr Charakter werden genau beschrieben. Sie ist die aristokratische, erhabene und doch natürliche junge Dame, deren erotische Ausstrahlung sie in den Status einer „Göttin“ erhebt. Wenn man davon ausgeht, dass Baron Bagge, wie für die meisten literarischen Helden Lernet-Holenias zu vermuten, ein „alter ego“ des Schreibers ist, so stellt Charlotte wohl das unerreichbare, auf einem hohen Sockel stehende Idealbild einer Frau dar, vor dem der Autor das Weihrauchfass schwingt.

Das für die Form der Novelle typische Unheimliche, Spiristische, wird hier durch den Blick ins Jenseits bzw. in den „Vorhof der Ewigkeit“ symbolisiert, den der Held machen darf. In der persönlichen Vorstellung Lernet-Holenias verbringen die Seelen gewissermaßen eine Spanne von neun Tagen (die im Diesseits nur Sekunden entsprechen) in einer Zwischenwelt, in der sie zu beiden Seiten, zu Diesseits wie Jenseits, noch in Beziehung stehen, nirgendwo dazugehören. Das Motiv der „Nicht-“ bzw. „Nicht-mehr-Zugehörigkeit“ durchzieht das literarische Schaffen des Autors. Er betrachtete sich als Teil einer betont männlichen, kriegerischen Generation, deren Zukunft im ersten Weltkrieg gestohlen wurde, und die nun auf die Enthüllung ihres endgültigen Schicksals wartet.

"Und eines Tages war alles aus,
am Ende da schwiegen die Waffen.
Man schickte die Soldaten nach Haus,
einen neuen Beruf sich zu schaffen."

Alexander Lernet-Holenia (1897-1976), ca. 1920 (c) A. Dreihann-Holenia

Mit diesen Zeilen aus dem von Robert Stolz vertonten sentimentalen Chanson vom „kleinen Gardeoffizier“ (Text von W. Reisch, nicht von Alexander Lernet-Holenia, der mich für diesen Vergleich wahrscheinlich auf Pistolen gefordert hätte – wäre ich als Frau nur „satisfaktionsfähig“) könnte man auch einen wesentlichen Aspekt aus dem Leben Alexander Lernet-Holenias und vieler, wenn nicht aller seiner Helden charakterisieren. Der lebenslang über die Identität seines Vaters Unsichere fand im Soldatenberuf (er diente im ersten Weltkrieg als Kavallerieoffizier) einen sicheren Anker,  welcher durch das Ende des Krieges und den Zerfall der k.u.k. Armee wieder losgerissen wurde (mit diesem traumatischen Erlebnis schlägt sich ein weiteres „alter ego“, der Fähnrich Herbert Menis, in Lernet-Holenias bekanntestem Roman „Die Standarte“ herum). Der Autor empfand dieses Umkippen der Leiter zu Aufstieg und gesellschaftlicher Anerkennung als Tragödie, der 1939 bis 1945 die Farce (als Wehrmachtsoffizier am Schreibtisch, zuständig für militärische Filmproduktion) folgte.

Der Autor gelangte so zu einer eher unausgegorenen, im Grunde aber recht reaktionären Weltsicht. Darum frage ich mich immer wieder, was mich mit ihm und seinem Werk verbindet? Es ist wohl weder das Militärische noch das Reaktionäre. Ich glaube, es ist das Gefühl der Unsicherheit über die eigene Rolle und den eigenen Platz in der Welt.

In dem hoch spannend beginnenden, leider aber niveaumäßig nicht bis zum Ende durchgehaltenen Noir-Kriminalroman „Ich war Jack Mortimer“ schlüpft Lernet-Holenias Held Ferdinand Sponer (Ex-Kavalleriekadett, Leider-nicht-Berufsoffizier, zu einer eher proletarischen Existenz als Chauffeur verdammt und erotisch heimlich einer unerreichbaren Aristokratin, Marisabelle von Raschitz, verfallen) in die Rolle des mysteriösen, in seinem Taxi von unbekannter Hand ermordeten Amerikaners Jack Mortimer. Anfangs nur, um die Spur des Toten, dessen Leichnam er in der Donau versenkt, zu verwischen, da er fürchtet, die Polizei könnte ihm den Mord „anhängen“. Doch durch den scheinbar nur gespielten Identitätswechsel wird er mehr in das Leben und in das Schicksal des Jack Mortimer hineingezogen, als ihm lieb ist, und muss nun, gejagt von der Polizei und Mortimers Feinden, selbst um sein Leben kämpfen.

Der bezeichnenderweise vornamenlose, nur durch sein Adelsprädikat definierte Titelheld unserer Novelle findet von seinem ganz persönlichen „Helweg“ durch das Schattenreich wieder ins reale Leben zurück. So wie Fähnrich Menis mit seiner persönlichen „Göttin“, Resa Lang, zurück nach Wien findet und von der Welt der Uniform, die er mit der Verbrennung der Standarte des Regiments „Maria Isabella“ symbolisch hinter sich lässt, in die Geschäftswelt wechselt, zu der ihm die Familie seiner Frau Zutritt verschafft.

Alexander Lernet-Holenia selbst blieb Zeit seines Lebens ein innerlich Gespaltener, Unzufriedener und Missmutiger. Er trauerte um die Monarchie, obwohl er das Haus Habsburg für schwach und degeneriert hielt. Er hielt ehrenhaft-ausreichende Distanz zum Nationalsozialismus, obwohl er, etwa in „Die Standarte“, mehrfach von einem ewigen, mystischen „Reich“ schwadroniert und die Uniform der Wehrmacht trug. Er empfand das Ende des dritten Reichs als befreiende Wohltat, doch blieb ihm auch die demokratische Republik irgendwie fremd (legendär wurde sein jahrelanger, skurriler, auch mit literarischen Mitteln ausgetragender Privatkrieg gegen die „Finanz-SS“, an dessen Höhepunkt er angeblich einen leitenden Beamten öffentlich zum Duell forderte). Er bewegte sich nicht exklusiv in reaktionären Kreisen (er war etwa Trauzeuge Ödön von Horvaths), doch seine Tätigkeit als Präsident des österreichischen P.E.N.-Clubs endet wegen seiner nach 1960 bereits auf erbitterten Widerstand stoßenden reaktionären Haltung mit der Spaltung der renommierten Schriftstellervereinigung.

Als sich mein Büro im selben Trakt der Wiener Hofburg befand wie des Dichters letzte Wohnung, habe ich meinem Vater einmal ironisch geschrieben, ich sei Lernet-Holenias Geist begegnet (in Wahrheit glaube ich nicht wirklich an das, was man allgemein als „übernatürlich“ beschreibt). Doch auch in meinem Denken streiten und mischen sich etwa demokratische, liberale und soziale Ideen. Ich halte ökologisches Denken und Handeln für überlebenswichtig, und doch trennt mich inzwischen einiges von den Grünen. Ich stehe nicht unter der Europafahne, wie das der Mode entspricht, sondern bleibe bei den Farben Rot-Weiß-Rot, den patriotischen Farben meiner Jugend. Ich empfinde mich als Mensch und – im Zweifel, mehrheitlich – als Mann und bin doch weder dem weiblichen noch dem männlichen Geschlecht klar und ausschließlich zugeordnet. Ich wurde sehr liberal und ohne Zwänge erzogen und bin dabei doch viel konservativer geworden, als die Erziehenden gedacht hätten, weil ich die liberale Beliebigkeit auch als eine Wurzel mir eigener charakterlicher Schwächen sehe. Ich finde mich in der technisierten Gegenwart sehr gut zurecht und bin doch emotional mehr ein Mensch des 19. oder frühen 20. Jahrhunderts. Ich bin durch mein Transgender-Sein zu einer Form des Aufbegehrens verdammt, obwohl ich oft lieber als „Systemerhalter“ nach dem Dienst im Kaffeehaus säße, etwa als Bezirksrichter in Waidhofen an der Ybbs (wo, oh Zufall, der Dichter 1915 die Matura abgelegt hat).

Meine Patrouille im Schattenreich ist, metaphorisch gesprochen, noch nicht zu Ende. Ich warte auf die Enthüllung dessen, was Leben und was Traum ist. Und mit den göttinnengleichen, unerreichbaren Frauen (manchmal auch Männern) habe ich es auch irgendwie. Ich bin eine notorische Weihrauchfassschwingerin, die Prinzessin Hamlet der Welt-Verkomplizierung, des „Aber“, „Wenn“ und „Vielleicht“.

Irgendwann sollte ich dann auf der Brücke von Hor aus dem Traum erwachen. Ich muss nur darauf hoffen, dass meine Wunden noch ein langes, solides Weiterleben erlauben werden.