König Richard II.


Am 11. Juni 2014 konnten wir den 150. Geburtstag des Komponisten Richard Strauss feiern.

Richard der Zweite also – als den Ersten hätte Strauss selbst nur Richard Wagner gelten lassen, dessen getreuer Verehrer und gefeierter Interpret er zeitlebens war.

Wenn man seine Lebensgeschichte betrachtet, so war es ein Leben voll der Konsequenz in der Inkonsequenz. Der Musikersohn und Bierbrauerenkel begann als Avantgardist, den konservative Erziehung plus Erfolg zum Reaktionär, zum Bürger am Notenpult, werden ließen. Er war auf eine seltsame Art eitel, die nur im Stolz auf kreative Leistungen wurzelte. Er war ein Kaufmann unter den Komponisten, der seinen eigenen Wert an Aufführungszahlen und Tantiemenflüssen zu messen pflegte (weshalb er auch als Lobbyist für das noch heute geltende Urheberrecht unterwegs war). Sein Materialismus war manchmal skurril und fast schockierend. Am Ende des 2. Weltkriegs sah er in den Ruinen, die das Nazi-Regime hinterlassen hatte, vor allem das Problem, wo seine Werke in Zukunft aufgeführt werden sollten (er arrangierte schnell aus der Musik seiner Opern mehrere Orchestersuiten, damit auch ohne funktionierenden Bühnenbetrieb Aufführungsrechte vergeben werden konnten).

Die Verbrechen des Nazi-Regimes ließen ihn nicht kalt, entlockten ihm aber keine angemessene Reaktion, weder als Mensch, noch als Künstler. Noch mitten im 2. Weltkrieg komponierte er eine Oper über Liebeswirren und musikästhetische Fragen („Capriccio“ 1942), als ginge ihn das Weltgeschehen nichts an. Er versuchte, sich mit einer Mischung aus Arroganz und Opportunismus durchzulavieren – und scheiterte kläglich. Kollaborateur des Regimes als Präsident der Reichsmusikkammer, Unterzeichner regimetreuer Adressen und Bittbriefe sowie Dirigent einer selbstverfassten „Olympiahymne“ für die Spiele in Berlin 1936 einerseits. Andererseits in Ungnade gefallener Vorlauter (ein sich sarkastisch über die Nazis äußernder Brief an seinen jüdischen Librettisten Stefan Zweig, 1935 abgefangen von der Gestapo, zwang ihn zum Rücktritt von allen staatlichen Ämtern), der noch 1943 vergeblich versuchte, mit Auto und Chauffeur am Tor des KZ Theresienstadt vorzufahren, um die Großmutter seiner jüdischen Schwiegertochter vor dem Tod zu retten. Nachdem ihn die SS-Wachen verscheucht hatten, beschloss Richard Strauss, für die restliche Dauer des NS-Regimes nicht mehr mutig zu sein. Aber er fand auch nach der Befreiung keine Worte und keine Töne. Vielleicht entzog sich das, was er flüchtig gesehen und erlebt aber nicht ganz verstanden hatte, auch seiner in einer älteren Welt verankerten Tonsprache. Als er 1949 starb, schloss sich auch der Grabdeckel über den dunklen Jahrzehnten des Kontinents Europa, und ein neuer Anfang lag in der Luft.

Max Liebermann, Bildnis Richard Strauss (1918); Quelle: Wikipedia

Und dennoch ein König! Kein Komponist verfügte über eine musikalische Palette dieses Umfangs, Klangfarben von solcher Raffinesse und größere Fähigkeit, Sprache und Musik in Bühnenwerken zu verbinden. Fast jedes seiner Werke berührt mich tief, wobei ich eine gewisse Schwäche – strenge Musikkritiker/innen mögen mich dafür schelten! – für die musikalische „Cinemascope-Ästhetik“ der Zeit zwischen 1900 und 1920 nicht leugnen kann. Wenn ich emotional in ein tiefes Loch zu stürzen drohe, dann höre ich mir das Schlussbild der „Frau ohne Schatten“ an, und wenn dessen strahlend helles Pathos mich nicht mehr aufheitern kann, dann schaffe ich es wohl nicht ohne Hilfe. Naja, und „Der Rosenkavalier“, das ist ja wohl die Oper für Crossdresser, mit einer Sängerin in einer Hosenrolle, die zwei halbe Akte lang auch noch einen jungen Mann spielt, der als Frau auftritt, auch wenn das dramaturgisch gut begründet scheint.

Das Theatermuseum des Kunsthistorischen Museums Wien zeigt im Palais Lobkowitz noch bis zum 9. Februar 2015 unter dem Titel „Trägt die Sprache schon Gesang in sich….“ eine Ausstellung zum Thema Richard Strauss und die Oper. Die Schau ist zwar sehenswert, konzentriert sich aber meiner Meinung nach zu sehr auf die Präsentation der berühmten Entwürfe Alfred Rollers für Kostüme und Bühnenbilder zahlreicher Strauss-Aufführungen der Wiener Oper, die zum Besitz des Museums gehören. Auf kritische Fragen zum Leben und zum Werk des Komponisten wird weitgehend verzichtet – schade!

Published in: on 15. Juni 2014 at 18:50  Kommentare deaktiviert für König Richard II.  
Tags: , , , ,

Der alte Pirat und Käpt’n Mick


Life von Keith Richards (mit James Fox), gelesen als Hardcover (1. Auflage 2010) in englischer Sprache aus dem Verlag Little, Brown and Company, ISBN 978-0-316-03438-8 (hc)

Man kann es Memoiren nennen, mit viel Nachsicht auch eine Autobiografie. Keith Richards, Mitgründer und Gitarrist der Rolling Stones, der (Eigendefinition) „Greatest Rock & Roll Band in the World“, ist, soviel steht fest, ein für die Musikgeschichte höchst bedeutender Mann. Recht erstaunlich, da er nach eigenem Eingeständnis nur ein mittelguter und keinesfalls virtuoser Gitarrenspieler und ein auf das Minimalistische konzentrierter Komponist bzw. Songschreiber ist.

Seit seinem kleinen Auftritt als Vater des von Johnny Depp gespielten Piraten Jack Sparrow in „Pirates of the Carribean: On stranger Tides“ (2011) ist Keith Richards für viele einfach nur „der alte Pirat“. Und die Rolle des Freibeuters, des Gesetzlosen, war schon immer Teil seines Selbstbildes. Er war Keith der Bürgerschreck, der Gitarrist der „Anti-Beatles“, Keith der Häf’nbruder (er brummte nach einer Drogenrazzia tatsächlich kurz im berüchtigten Gefängnis von Wormwood Scrubs, bis ihn die Anwälte der Stones wieder rausholten), Keith der Drogenjunkie und Keith das Frontschwein im „3. Weltkrieg“ (Jagger contra Richards).

Richards Selbststilisierung zur „harten Sau“ entbehrt nicht einer gewissen zwinkernden Selbstironie, denn im Grunde ist der Mann ein ausgesprochenes Glückskind, das bei jedem Spiel mit dem Feuer dem Flammeninferno um Haaresbreite entkommen und bei jedem Sprung ins Ungewisse weich gelandet ist. Seit Ende der 1960er war er als Mitglied einer der weltweit erfolgreichsten Bands aller Zeiten finanziell abgesichert, wenn er fiel, stand also stets ein Geldhaufen bereit, um den Fall abzufedern. So meint Keith selbst, die Zeit der Heroinabhängigkeit (ca. 1970 bis ca. 1980) vor allem deshalb überlebt zu haben, weil er sich dank gut gefüllter Brieftasche fast immer reinen Stoff von bester Qualität besorgen konnte.

Man darf sich von diesem Buch keine tiefschürfenden oder neuen Erkenntnisse über die Geschichte der Stones erwarten. Keine neuen Fakten oder Gerüchte über den Tod von Band-Mitgründer Brian Jones etwa. Interessant sind in Bezug auf die Bandgeschichte vor allem die Ansichten eines der „Kriegsteilnehmer“ zur Person, zum Charakter und zu den Allüren des kreativen Partners und ewigen Reibebaums Mick Jagger. Anfang der Achtzigerjahre, als Keith Richards nach jahrelangem Dauer-Drogenrausch den Heroin-Entzug schaffte und wieder an der Leitung der Band beteiligt werden wollte, führte das zum Bruch der Freundschaft zwischen ihm und Jagger und um Haaresbreite zur Auflösung der Rolling Stones. Auf den betreffenden Seiten erfährt man einiges von alten Wunden und kaum aufgefüllten Gräben, und man sieht klar den charakterlichen Unterschied zwischen dem im Grunde gemütlichen Bühnen-Piraten, Salon-Anarchisten und, ja, Bonvivant Richards und dem ehrgeizigen, nervösen, stets nach dem Zeitgeist haschenden Sportlehrersohn und Ex-Wirtschaftsstudenten Jagger. Irgendwo in diesem Spannungsfeld muss aber auch das Erfolgsgeheimnis der Rolling Stones und des Songwriter-Duos Jagger & Richards liegen.

Den Kampf um den Platz des Kommandanten auf dem Achterdeck der Fregatte „The Rolling Stones“ hat der alte Pirat gegen Käpt’n Mick wohl glatt verloren, denn an der kritisierten Ausrichtung der Band auf hochpreisige Großveranstaltungen ist auch nach dem „3. Weltkrieg“ nichts mehr geändert worden. Und, auf Piratenehre, jede Golddublone, die Käpt’n Micks Entermesser aus den Geldbeuteln der Fans und Sponsoren zu kitzeln wusste, wurde ja auch brav geteilt!

Keith Richards Stärke als Autor (bzw. die seines Co-Autors) ist das Anekdotische. Er versteht es sozusagen bestens, launigen Seemannsgarn zu spinnen. Man darf nur nicht alles für bare Münze nehmen. So wird die Welt wohl nie die ganze Wahrheit darüber wissen, wie das mit der Asche seines Vaters war. Manche vieldiskutierten Tratschereien, wie Richards Bemerkungen über die Größe von Mick Jaggers Penis, sind allerdings an mir völlig vorbeigegangen (obwohl ich das Buch – auf Englisch – sehr langsam und sehr aufmerksam gelesen habe). Manches hinterlässt einen Eindruck von Ehrlichkeit, manches wirkt wie Aufschneiderei, witzig und unterhaltsam ist es (fast) immer.

Wer nichts von der Geschichte der Rolling Stones und der Rockmusik zwischen 1962 und 1982 (dem Zeitraum, in dem man die Rolling Stones als stilbildend bezeichnen kann) weiß, der wird dieses Buch wahrscheinlich weder verstehen noch für witzig halten. Alle anderen werden sich amüsieren.

Published in: on 11. Januar 2014 at 23:07  Kommentare deaktiviert für Der alte Pirat und Käpt’n Mick  
Tags: , , ,

Ballverlust


Operetten-Kritik 

Bühne Baden, Sommerarena, 31. Juli 2013

Richard Heuberger“Der Opernball“ (Léon/von Waldberg [Libretto], Bibl/Herzl/Ronzoni/Wahl [Einrichtung] )

Inszenierung: Volker Wahl und Michaela Ronzoni  (4. Aufführung in dieser Inszenierung)

Dirigent: Oliver Ostermann

Hortense ….. Julia Koci

Margret ….. Frauke Schäfer

Georg ….. Matjaz Stopinsek

Elise ….. Barbara Payha

Paul ….. Thomas Sigwald

Heini  ….. Elvira Soukop

Theophil ….. Heinz Zuber

Palmyra ….. Edith Leyrer

Cisnik  ….. Josef Forstner

Dodo ….. Gabriele Kridl

Herman/Graf Felsenberg/Ministerialrat ….. Artur Ortens

Eugen ….. Robert Sadil

—–

Den ersten Fehler bemerkt man gleich beim Aufschlagen des Programmheftes. Die Rollennamen! Hier hat wieder einmal der Korrekturstift vorwitziger Bearbeiter gewütet und das Stück in ein „wienerisches“ Korsett gezwängt. Aus dem französischen Marinekadetten „Henri“ einen „Heini“ zu machen, zeugt nun auch wirklich von Fantasie! Meine persönliche Grundregel für die Bewertung der Wiener Operette lautet allerdings: erstes Indiz für die Qualität des Librettos ist die Entfernung des Schauplatzes vom Stephansturm! Ein Stück, das auf einer flotten und für ihre Zeit recht frivolen französischen Boulevardkomödie („Die rosa Dominos“ von Delacour und Hennequin) basiert, an die Donau zu verlegen, macht die qualitätvolle Handlung nicht besser, widerspricht aber nachdrücklich dem Geist der Musik. Denn der Grazer Richard Heuberger nahm beim Komponieren einige kräftige Lungenzüge voll Pariser Luft und französischen Flairs, und seine allerletzte Absicht dürfte es gewesen sein, in „weanerischer Gemütlichkeit“ zu versumpern.

Abgesehen davon, dass es im späten 19. Jahrhundert noch gar nicht „den Opernball“ als festen Bestandteil des Wiener Ballkalenders gegeben hat (erst seit 1955), wäre es dort vermutlich auch weniger freizügig zugegangen als auf den Maskenbällen in der Pariser Oper. Und warum man bei Dommayers (in der Originalfassung: Duménils) mitten im Fasching, also im Spätwinter, auf der Dachterrasse zu frühstücken beliebt, können sie das Regietalent fragen, das Bühnenbild und Schauplatz wohl rund um die Idee hat bauen lassen, den frechen Marinekadetten beim Flirten mit dem Stubenmädchen zu einem Balanceakt auf der Brüstung über dem Abgrund zu nötigen.

Abseits dieser Regie-Mätzchen funktioniert die Verwechslungskomödie rund um den von der abgebrühten Margret Dommayer (in der Originalfassung: Marguérite Duménil) arrangierten Partnertausch recht gut. Am Ende tröstet man sich damit, dass „es“ im Chambre Separée unter dem Schutz der Maske ja doch nur beinahe passiert ist – und ganz genau möchte wohl keiner der Männer wissen, ob er jetzt mit der Frau des anderen, einer Halbseidenen vom „Theater“ oder nur mit dem Stubenmädchen….hat. Man geht auseinander, die Freundschaft der Paare ist bei realistischer Betrachtung wohl zerbrochen, Paul und Elise Aumann (im Original: Paul und Angèle Aubier) kehren desillusioniert zurück nach Amstetten (im Original: Orléans), die Ball-Kellner zählen ihren Schmattes, und der Marinekadett wird sich mit anderen Dienstboten zu trösten wissen.

Die in Baden gespielte Fassung hält sich sonst musikalisch und textlich ziemlich genau an die Bühnenfassung, die ich am 21. September 1988 in der Volksoper gesehen habe. Das heurige Badener Programmheft nennt Rudolf Bibl (der 1988 dirigiert hat) und den Badener Intendanten Robert Herzl (vom dem die 1988 gesehene Inszenierung stammte) als Bearbeiter. In Baden erlaubt man sich aber den mehr als schlechten Scherz, die berühmte Ouvertüre nach einem Drittel abzubrechen und als musikalische Pantomime und Entreactmusik an anderer Stelle zu verwurschten. Ein weiterer unnötiger Bruch. Dies ist umso bedauerlicher, als die Wirkung dieser Operette nicht nur auf schnell fließenden Ensembleszenen und einer sehr feinen Ziselierung der Musik beruht. Heuberger bedient sich auch einiger kleiner Leitmotive, die teils bereits in der Ouvertüre vorkommen, weshalb diese Musik einfach an die Stelle gehört, für die sie komponiert worden ist.

Womit wir bei den künstlerischen Akteurinnen und Akteuren wären. Oliver Ostermann vermochte als Dirigent der Partitur und dem Orchester keinen Glanz zu entlocken. Selten habe ich eine so uninspirierte, so hohl und zäh klingende Operettenaufführung gehört. Aus der guten Riege der Sängerinnen und Sänger ragte eindeutig Matjaz Stopinsek als Georg heraus, dessen vor allem ab dem 2. Akt ebenso kraftvoll wie makellos geführte Tenorstimme den dringenden Wunsch erweckt hat, den Sänger auch einmal in einer dramatischen Rolle zu hören. Alle anderen bewältigten ihre Rollen solide bis makellos.

Über die Inszenierung hätte ich vielleicht sogar Gutes geschrieben, hätten sich Volker Wahl und Michaela Ronzoni nicht die erwähnten halblustigen und überflüssigen Umstellungen einfallen lassen.

Kurzer Schlussapplaus.

Published in: on 13. August 2013 at 23:38  Kommentare deaktiviert für Ballverlust  
Tags: , ,

Neujahrskonzert


Die Grünen haben eine äußerst seltsame Kontroverse gestartet. Einerseits haben sie damit Recht und treffen einen wunden Punkt der österreichischen Kulturgeschichte. Zum anderen lese ich daraus eine gewisse anarchische Lust am Zerstören von Denkmälern.

Und das Orchester der Wiener Philharmoniker ist zweifellos ein lebendes Denkmal und ein österreichisches Nationalheiligtum. Und nicht zuletzt eine für seine Mitglieder höchst lukrative Institution.

Anlässlich des Neujahrskonzerts 2013 der Wiener Philharmoniker, Hochamt der Wiener Musiktradition, hat der grüne Nationalratsabgeordnete Harald Walser mit Recht auf die gerne verschwiegenen Wurzeln dieser Konzertveranstaltung hingewiesen.

Und die sehen etwa so aus:

1933 hatte sich das Orchester mit seinem damaligen ständigen Dirigenten der Abonnementkonzerte und faktischem künstlerischen Leiter, dem Staatsoperndirektor Clemens Krauss, überworfen. Die Wurzeln dieses Streits liegen bis heute etwas im Dunkeln. Vermutlich krachte das nicht gerade kleine Ego von Krauss mit einem Dutzend ähnlich großer Egos der führenden Mitglieder des Orchesters zusammen. Die Philharmoniker haben bezeichnenderweise seither nie wieder einen einzelnen Künstler als ständigen Dirigenten der philharmonischen Abonnementkonzerte akzeptiert.

Clemens Krauss verließ Ende 1934 Wien und schloss einen für seinen weiteren Lebensweg fatalen „faustischen“ Pakt mit dem Nationalsozialismus: er wurde ab 1935 musikalischer Leiter der Berliner Staatsoper. Damit sicherte er sich (als österreichischer Staatsbürger) seinen Platz im Rampenlicht der NS-Kulturpolitik (er gehörte zu den erklärten Lieblingsdirigenten Adolf Hitlers), wurde aber auch in diverse Intrigenspiele zwischen ehrgeizigen Repräsentanten der NS-Politik hineingezogen. Und den ersten Platz am Pult des Berliner Philharmonischen Orchesters gab sein künstlerischer Rivale Wilhelm Furtwängler natürlich nicht aus der Hand. Krauss war zwar der Geldnot der österreichischen Bundestheaterverwaltung „entkommen“, musste sich aber nun nach der Decke der NS-Ideologie strecken.

Clemens Krauss (1893 bis 1954) zeichnete ein während seiner Laufbahn stetig wachsender Glaube an seine Fähigkeiten als Theaterleiter und Kulturmanager aus. Er hielt sich auf diesem Gebiet offenkundig für genial. Sein anderer Wesenszug war die Überzeugung, dass der Kunst, und da insbesondere der Musik, eine fast sakrale Form der Achtung gebühre. Die Politik habe der Kunst zu dienen und einem genialen Kunstmanager – also insbesondere ihm – die erforderlichen Mittel bereitzustellen. Die Einsicht, dass sich die Politik auch der Kunst bedienen konnte, und er damit letztlich nur ein Hampelmann in Hitlers und Goebbels großem Theater blieb, scheint ihm, wenn überhaupt, erst 1945 gekommen zu sein. Die „Kunstzentriertheit“ seines Denkens machte ihn blind für alle moralischen Fragen des Dienstes im Sold der Nazis.

Clemens Kraus verkannte, wie viele andere Künstler mit und neben ihm, die Tatsache, dass der Nationalsozialismus keine Regierung „wie andere auch“ war. Ein totalitäres Regime versucht die Menschen nicht nur zu beherrschen sondern nach seinen Wunschvorstellungen zu (ver-) formen, während es nicht in sein Schema passende zu vernichten sucht.

Vorläufig glaubte Krauss, den braunen Tiger sicher reiten zu können. 1937 verließ er Berlin, um die Leitung der Oper in München zu übernehmen, die er bis zur Zerstörung des Hauses 1943 und der Schließung aller Theater 1944 nicht mehr aus der Hand gab. Er war anscheinend klug genug, sich, anders als etwa Herbert von Karajan, nicht um die Mitgliedschaft in der NSDAP bemüht zu haben (jedenfalls gibt es dafür keinen Beweis). Doch war er auch skrupellos genug, seine Verbindungen zu NS-Funktionären spielen zu lassen, um seinen Einfluss im Kulturbetrieb zu steigern.

Seit der Machtübernahme der Nazis in Wien 1938 war es das Ziel von Clemens Krauss, wieder die Leitung der Wiener Staatsoper zu übernehmen. Ihm schwebte wohl vor, die Operndirektionen von Wien und München sowie die Leitung der Salzburger Festspiele in seiner Hand zu vereinigen.

Der Anschluss Österreichs an das Dritte Reich bedeutete für den selbstverwalteten Orchesterverein der Wiener Philharmoniker das Aus. Er wurde aufgelöst und nach nationalsozialistischer Facon („Führerprinzip“) neu gegründet. Das heißt, ab sofort hatte das Propagandaministerium bei der Auswahl des Orchesterchefs („Vereinsführer“), der Dirigenten und der Musiker das letzte Wort. Alle den Nazis aus rassistischen oder politischen Motiven missliebigen Musiker wurde aus dem Orchester ausgestoßen, insbesondere alle Juden. Mehrere jüdische Musiker, darunter der Konzertmeister (1. Geiger) Julius Stwertka, starben im KZ. Und bald tauchte auch der Schatten des 1933 geschassten Clemens Krauss, halb freundlich, halb bedrohlich, am Horizont auf. Als Wiener Operndirektor machte zwar, nach einigen Intermezzi mit reinen Administratoren als Leitern, 1943 Karl Böhm – ein weiterer, jüngerer Rivale für den eifersüchtigen Krauss – das Rennen. Am Münchner Impresario führte aber für das Stammorchester der Salzburger Festspiele kein Weg vorbei.

Obwohl Krauss es auch über seine Vertrauensmänner in der NS-Kulturbürokratie bis Kriegsende nicht vermochte, die Wiener  Oper unter seine Kontrolle zu bringen, erzwang er doch eine „Versöhnung“ mit dem Orchester. Nach Ausbruch des 2. Weltkriegs entstand dann die Idee eines Konzerts mit typisch wienerischer Musik aus Anlass des Jahreswechsels. Es dürfte stimmen, dass so ein Projekt bei den Berliner Zentralstellen damals nicht auf unbeschränkte Begeisterung gestoßen sein dürfte. Es als Akt der Subversion, ja gar des Widerstands gegen die Vereinnahmung Österreichs zu bezeichnen, ist aber reine Chuzpe bzw. eine Legende der Nachkriegszeit. Die NS-Bürokratie sorgte im Vorfeld mit einer dubiosen Geheimaktion dafür, Hitlers Untertanen die Walzermusik der Strauß-Familie zu erhalten. Das Trauungsbuch Nr. 69 der Dompfarre St. Stephan in Wien, aus dem die jüdischen Vorfahren des Walzerkönigs für jedermann ersichtlich hervorgingen, wurde beschlagnahmt und im Berliner Reichssippenamt eine im Sinne der nationalsozialistischen Rassenideologie frisierte Kopie angefertigt. Diese wurde wieder ins Archiv eingereiht. Forscher, von deren Einsichtnahme in das Original man Kenntnis hatte, wurden ins Sippenamt der NSDAP-Gauleitung Wien zitiert und zum Stillschweigen verpflichtet.  Andernfalls hätte die Musik der Strauß-Familie ebenso verboten werden müssen wie die von Jacques Offenbach. Diese Perspektive dürfte den in Wien maßgeblichen Nazis, namentlich dem Gauleiter Baldur von Schirach, als zu kontroversiell erschienen sein. Propagandaminister Goebbels selbst stimmte ihnen in einer Tagebucheintragung zu:

„Ein Oberschlauberger hat herausgefunden, daß Joh. Strauß ein Achteljude ist. Ich verbiete, das an die Öffentlichkeit zu bringen. Denn erstens ist es noch nicht erwiesen, und zweitens habe ich keine Lust, den ganzen deutschen Kulturbesitz so nach und nach unterbuttern zu lassen. Am Ende bleiben aus unserer Geschichte nur noch Widukind, Heinrich der Löwe und Rosenberg übrig. Das ist ein bißchen wenig“

Und so fand am 31. Dezember 1939 unter der Stabführung von Clemens Krauss zum ersten Mal ein „Außerordentliches Konzert“ der Wiener Philharmoniker im Großen Musikvereinssaal statt, das zur Gänze der Musik der Strauß-Dynastie (und deren Zeitgenossen) gewidmet war. Krauss galt zu Recht als der versierteste Interpret dieser Musik unter den zeitgenössischen Dirigenten. Ab 1941 (erstmals am Neujahrstag) dirigierte er das Neujahrskonzert bis zu seinem Tod 1954 ständig, unterbrochen nur durch ein von den Alliierten erzwungenes Auftrittsverbot in den Jahren 1946 und 1947. 1943 erhielt er anlässlich seines 50. Geburtstags den Ehrenring der Wiener Philharmoniker als Ausdruck der Versöhnung zwischen dem Orchester und seinem letzten „Chefdirigenten“. Über das Entnazifizierungsverfahren des Clemens Krauss gibt es meines Wissens bisher so gut wie keine veröffentlichten Dokumente.

Das Neujahrskonzert wurde nicht so sehr zum Ausdruck eines „wienerischen“, im Sinne des Nationalsozialismus demnach „provinziellen“ und daher harmlosen Kulturverständnisses im Gefüge des Dritten Reiches, sondern eines neu definierten und harmlos ideologisch eingefärbten Österreichertums „post 1945“. Ab 1959 wurde das Konzert als Fernsehübertragung weltweit verbreitet. Bald etablierte sich der falsche aber unwidersprochene Eindruck, es handle sich um eine vom „Walzerkönig“ Johann Strauß Sohn selbst begründete Tradition.

Man soll nicht den Stab über Menschen brechen, die unter Umständen Entscheidungen treffen mussten, die weit jenseits dessen liegen, was den Österreichern oder Deutschen des Jahres 2013 zugemutet würde. Was aber auffällt, das ist die Sprachlosigkeit im Kulturbetrieb angesichts der Verbrechen des Nationalsozialismus. Man machte vielfach einfach so weiter, als hätte 1945 bloß eine Wahl stattgefunden, als deren Folge eine neue Regierung ins Amt gekommen wäre. Gerade auf dem Feld der Kunst tat man so, als hätte der Holocaust jenseits des Horizonts stattgefunden.

Eine Sprachlosigkeit, der mit rund fünfzigjähriger Verzögerung und in übernächster Generation eine neue Art von Besessenheit zu folgen scheint. Eine Besessenheit, die zwischen dem ehrlichen Wunsch, die Wahrheit auszusprechen, und einer schalen moralischen Überheblichkeit schwankt.

Published in: on 9. Februar 2013 at 18:01  Kommentare deaktiviert für Neujahrskonzert  
Tags: , , , , , ,

Ein einfacher, kurzer Nachruf


Am 18. Mai 2012 ist Dietrich Fischer-Dieskau, einer der größten der großen Opernsänger des 20. Jahrhunderts, in Berg am Starnberger See verstorben.

Obwohl der Bariton heute meist für seine Interpretation der Lieder von Schubert oder Mahler gerühmt wird, halte ich ihn auch und vor allem für ein musikdramatisches Genie.

Seine Stimme war für mich eine der ganz wenigen Gesangsstimmen, die man unverwechselbar und sicher nach etwa drei bis fünf Takten identifizieren konnte. Sie wird zwar meist als „lyrischer Bariton“ klassifiziert, hatte aber irgendetwas Kraftvolles, Metallisches, Heldenhaftes an sich, das diesen Rahmen sprengt. Fischer-Dieskau war einer jener raren Opernsänger, die den Gesangstext stets sauber und gut verständlich artikulieren konnten. Er erlaubte sich gewisse Freiheiten in der Phrasierung, aber diese waren stets interpretatorisch gut begründet. Wegen der Klarheit seines Vortrags konnte er eine Rolle gleichsam allein mit seiner Stimme modellieren.

Einige seiner Aufnahmen von Verdi-Opern in deutscher Übersetzung aus der Epoche zwischen 1945 und 1965 waren für mich und meine Liebe zum Genre Oper prägend. Ein Marquis Posa, der als Opfer der Meuchelmörder der Inquisition in den Armen seines Freundes Don Carlos stirbt („Du wirst einst Spanien befreien! Carlos, leb‘ wohl, gedenke mein!“), wird in meinen Ohren stets so klingen wie Dietrich Fischer-Dieskau.

Published in: on 22. Mai 2012 at 22:00  Kommentare deaktiviert für Ein einfacher, kurzer Nachruf  
Tags: , , ,

Im Alptraumland der Operette


Operetten-Schnellkritik

Bühne Baden, Sommerarena, 4. August  2011

Franz von Suppé „Boccaccio“ (Friedrich/Zell/Genée [Libretto], Breznik/Schmidt/Herzl [Einrichtung] )

Inszenierung: Robert Herzl  (5. Aufführung in dieser Inszenierung)

Dirigent: Franz Josef Breznik

Lorenz, Herzog der Toscana  ….. René Rumpold

Giovanni Boccaccio ….. Christina Khosrowi

Pietro, Prinz von Palermo ….. Johann Winzer

Scalza, Barbier ….. Beppo Binder

Beatrice, seine Frau ….. Elisabeth Flechl

Lottheringhi, Fassbinder ….. Daniel Ohlenschläger

Isabella, seine Frau ….. Frauke Schäfer

Lambertuccio, Gewürzkrämer ….. Thomas Markus

Peronella, seine Frau ….. Regula Rosin

Fiametta, beider Ziehtochter ….. Jasmina Sakr

Leonetto, Student ….. Anton Graner

Podesta ….. Robert Sadil

Filippa ….. Kerstin Raunig

—–

Ich schreibe ja selten und eher ungern Verrisse. Aber das wird einer, schnallen sie sich also an, liebe Leserinnen und Leser!

Als ich gestern gegen Zehn nach Zehn aus der Badener Sommerarena gestolpert bin, war ich fast froh, einem Alptraum entkommen zu sein. Ich gebe zu, dass ich wegen vorangegangenen Pechs am Black-Jack-Tisch im Spielcasino nicht allerbester Laune war, aber das, diese Enttäuschung hatte ich mir bei einem meiner Lieblings-Bühnenwerke definitiv nicht verdient!

Eines von Franz von Suppés Bagatell- und Gelegenheitswerken heißt ja, glaube ich jedenfalls, „Der Teufel auf Erden“, und den gestrigen Luzifer („Pleased to meet you,  hope you guessed my name!“) kann man sogar beim Namen nennen: Er heißt Robert Herzl. Und die Freude an dieser Begegnung war endenwollend. Und ist Luzifer nicht eigentlich der Name des Engels, der einst der Lichtbringer Gottes war?

Der nunmehrige künstlerische Direktor des Badener Theaters beschränkt sich leider nicht aufs Licht sondern kann die Finger nicht vom Regiesessel lassen! Er zerhackte und zer-arrangierte eines der musikalischen Meisterwerke der Wiener Operette zu einer kleistrigen, absolut peinlichen Nummernrevue, für deren Regiequalitäten der Ausdruck „Stadttheaterniveau“ noch schmeichelhaft wäre. Das war Amateurliga. Jedes Finale ein hölzernes Schlusstableau mit der dramaturgischen Spannkraft einer Szene des „Villacher Faschings“ von anno 1972, gekrönt von sinnlosem Ballettgehopse unter dem Motto: „Hoch das Bein!“.

Ja, es stimmt schon, dass „Boccaccio“ heute besonders schwierig zu inszenieren ist, da der Handlungsfaden schwach ist, und die Situations- und Charakterkomik des Librettos in unserer Zeit nicht mehr automatisch funktioniert. Aber wenn man meint, dass das Stück heute nicht mehr trägt, dann soll man es halt nicht ansetzen, statt es mit einer stümperhaften Bearbeitung und einer Tölpelregie eiskalt hinzurichten.

Ich halte mich nicht damit auf, ins Detail zu gehen, aus dieser Katastrophe kommt keiner künstlerisch lebend raus!

Doch halt, eine hat sich eine Ausnahme verdient! Frau Christina Khosrowi, die Darstellerin des Titelhelden, überzeugte mich durch ihre sehr schöne, kraftvolle Mezzosopranstimme. Es entspricht der Originalfassung dieser Operette (immerhin diese Güte hatten Herr Herzl & Co. in ihrem Bearbeitungsgestümpere), den Dichter als Hosenrolle anzulegen, und irgendwie hatte Frau Khosrowis Stimme dazu das passende, leicht männlich klingende Timbre. Das bekannte Duett Boccaccio – Fiametta „Florenz hat schöne Frauen“ (hier in der Fassung mit italienischem Text in der zweiten Strophe) bekommt mit zwei Frauenstimmen einen ganz eigenen, besonders schönen Klang, der im Wien des späten 19. Jahrhunderts sicher auch leicht queer-erotischen Kitzel im Publikum auslöste. Wann durften sich sonst schon zwei Frauen auf der Bühne küssen?

Alle anderen können von Dank reden, dass sie nicht mit dem Regisseur zur Hölle fahren müssen! Kühler, seniorenclubmäßiger Schlussapplaus. Anscheinend war ich nicht die einzige, die schnell da raus wollte!

Published in: on 5. August 2011 at 12:10  Kommentare deaktiviert für Im Alptraumland der Operette  
Tags: , ,

Überm Abgrund zwischen Kitsch und Verismo


Opern-Schnellkritik

(na gut, diesmal nicht soo schnell… 😉 )

Volksoper Wien, 27. Juni 2011

Wilhelm Kienzl  „Der Evangelimann“ (Kienzl/nach Meißner)

Regie: Josef Ernst Köpplinger  (33. Aufführung in dieser Inszenierung)

Dirigent: Gerrit Prießnitz

Friedrich Engel, Justiziär ….. Walter Fink

Martha, seine Nichte ….. Elisabeth Flechl

Magdalena, deren Freundin ….. Alexandra Kloose

Johannes Freudhofer, Schullehrer ….. Sebastian Holecek

Mathias Freudhofer, Amtsschreiber ….. Herbert Lippert

Xaver Zitterbart ….. Jeffrey Treganza

Anton Schnappauf ….. Josef Luftensteiner

Hans, ein junger Bauernbursche ….. Christian Drescher

Friedrich Aibler ….. Florian Spiess

Aiblers Frau ….. Ulrike Pichler-Steffen

Frau Huber ….. Lidia Peski

Nachtwächter ….. Thomas Plüddemann

—–

Oh Gott, er ist wieder da! So möchte man fast ausrufen, angesichts der erfolgreichen Aufführungsserie dieser einstigen Musteroper für das Haus am Währinger Gürtel. Ja, so liebten die bürgerlichen Wienerinnen und Wiener der Zeit um 1900, die Patrone und Paten der Christlichsozialen Partei, deren Namen in den Foyers der heutigen Volksoper noch in Stein und Marmor gemeisselt zu lesen sind, ihr Musiktheater: eine Prise Wagner, etwas Lohengrin-Chromatik, Leitmotive-Light sozusagen, dazu „öchte Volkstypen“, christliche Frömmigkeit und ein Quentchen Walzerklang und Ländlersang. Ein „bürgerliches Rührstück“ eben, wie der schon altersmilde legendäre Musikkritiker Eduard Hanslick in seiner grundsätzlich wohlwollenden Rezension der Wiener Erstaufführung 1896 anmerkte.

Heutzutage un-er-träglich – möchte man der Papierform nach meinen, Kitsch-Alarmstufe Rot! Und doch hat es mich da einfach hingezogen, sodass ich schnell entschlossen eine der wenigen noch verfügbaren Karten, Balkonloge 4 rechts, zweite Reihe, erstanden habe.

Und ich habe es nicht bereut!

Wenn man die Geschichte dieser Oper erzählt, sollte man dem Autor der literarischen Vorlage ein paar Zeilen widmen. Dr.iur. Leopold Florian Meißner war nämlich nicht nur ein als Literat dilettierender Polizeibeamter, Advokat und Kommunalpolitiker. Als Mann der zivilen Geheimpolizei (Staatspolizei) überwachte er auch politisch missliebige Zeitgenossen und organisierte für den Ministerpräsidenten Graf Taaffe u.a. die Bespitzelung des Kronprinzen (als „Führungsagent“ der Kupplerin und Polizeikonfidentin Johanna Wolf, die wiederum Rudolfs Maitresse Marie „Mizzi“ Caspar aushorchte). Meißner muss einer jener Männer gewesen sein, die über die Hintergründe von Rudolfs Selbstmord in Mayerling am besten Bescheid gewusst haben. Als loyaler kaiserlicher Beamter schwieg er darüber allerdings eisern. Ebenso schwieg der Advokat Dr. Meißner wohl über einige diskrete Arrangements, die er für hochgestellte Persönlichkeiten nach außerehelichen sexuellen Abenteuern getroffen haben soll, um das Schweigen der betreffenden Damen zu sichern. Einer seiner Mandanten soll der spätere deutsche Kaiser Wilhelm II. gewesen sein.

Mit anderen Worten, dieser Dr. Meißner hatte zwei Gesichter: hie der fantasiebegabte, menschenfreundliche Beamte und hilfsbereite Advokat, als der er gerne posierte, dort der skrupellose, fouchéhafte Diener der Mächtigen mit engen Kontakten zur Halbwelt. Dieser Mann war nicht nur ein Guter.

Als „Guter“ hinterließ Dr. Meißner den zeitweilig überaus populären Erzählband „Aus den Papieren eines Polizeikommissärs“, der auch die Geschichte vom Evangelimann enthält. Der Erzähler soll stets das Gerücht genährt haben, alles darin sei wahr, wenn er auch den Ort der Handlung und die Namen verändert habe. Doch der endgültige Beweis dafür konnte bisher nicht erbracht werden, weder in Wien, noch an den zwei als das „St. Othmar“ des ersten Aktes in Frage kommenden Plätzen, dem Augustiner-Chorherrnstift Göttweig und dem Benediktinerstift Melk.

Der Komponist und seine Frau kauften sich den Reclam-Band mit Meißners Geschichten als Sommerlektüre, und Kienzl fand den Stoff so faszinierend, dass er sich daraus selbst ein Opernlibretto dichtete. Er traf Meißner noch persönlich und holte dessen Zustimmung zur Bearbeitung der Vorlage ein. Die Premiere von „Der Evangelimann“ in Berlin und den anschließenden großen Erfolg der Oper erlebte der bereits schwer kranke ehemalige Polizeijurist allerdings nicht mehr.

Getreu dem programmatischen Motto „Heute schöpfet der Dichter kühn aus dem wirklichen Leben schaurige Wahrheit“ aus dem Prolog zu Leoncavallos „I Pagliacci“ erfand Kienzl gewissermaßen den Verismo, den musikdramatischen Naturalismus, für den deutschsprachigen Kulturkreis noch einmal. Auch der Pagliacci-Komponist schrieb sein Libretto bekanntlich selbst, und auch die Geschichte vom Eifersuchtsmord auf offener Bühne soll wahr sein (Leoncavallos Vater hatte den Fall angeblich als Untersuchungsrichter in Kalabrien auf seinem Schreibtisch). Doch zurück zum „Evangelimann“. Die Brüder Johannes, der katzbuckelnde Talentierte,  und Mathias, der simple aber aufrechte, lieben die selbe Frau, Martha, die sich für Mathias entscheidet. Johannes bringt daraufhin durch Intrige und Meineid Mathias zuerst um Arbeit und Brot und anschließend als Brandstifter ins Gefängnis – das Feuer dafür legt er selbst. Martha begeht Selbstmord. Dreißig Jahre später trifft der nach seiner Kerkerhaft als bettelnder Laienprediger, eben als der titelgebende „Evangelimann“, durch die Elendsquartiere Wiens ziehende Mathias seinen Bruder an dessen Sterbebett noch einmal – dieser gesteht seine Schuld, und Mathias verzeiht ihm.

Die Volksoper hat dazu eine in jeder Hinsicht großartige Produktion auf die Bühnenbretter des Hauses gestellt. Ich war beeindruckt. Hier stimmte so gut wie alles. Zunächst die stimmige Inszenierung von Josef Ernst Köpplinger (Bühnenbild von Johannes Leiacker, Kostüme von Marie-Luise Walek), die die großen und sentimentalen Gefühle ernst nimmt, ihnen jedoch die gefährlich-klebrigen Zuckerguss-Spitzen abbricht. Sie versetzt die Handlung dabei aus dem Vormärz in die Zeit vor und nach dem ersten Weltkrieg, unterlegt also Mathias‘ Leiden in der unschuldig erlittenen Kerkerhaft mit einer politisch-sozialen Katastrophe, einem Umbruch, der aus der ländlichen, oberflächlich sauberen Welt von St. Othmar in das sozial verelendete Wien der Depressionszeit überleitet. Die Schluss- und Sterbeszene verlegt der Regisseur aus Johannes‘ Wohnung in ein Krankenhaus, rahmt sie mit pantomimisch angedeuteten weiteren menschlichen Tragödien ein, und nimmt ihr durch diese Verbreiterung den sonst leicht kitschigen Hautgout.

Das Kain-und Abel-Brüderpaar Johannes und Mathias erlangt durch Sebastian Holecek und Herbert Lippert eindrucksvolle Bühnenpräsenz. Obwohl Herr Lippert als der Tenor die dankbarere Rolle hatte (verdienter Szenenapplaus nach „Selig sind, die Verfolgung leiden“ im zweiten Akt), geht der Bariton doch mit einer Nasenlänge Vorsprung durchs Ziel. Herr Holecek überzeugte durch stimmliche und durch darstellerische Kraft, er erfüllte die Rolle des Bösewichts, des psychisch unrunden, unzufriedenen, vor der Obrigkeit kriechenden Intellektuellen, der Gott verflucht und doch den Glauben wiederfindet, einfach mit Leben. Walter Fink ergänzt den Fächer der tragenden männlichen Stimmen in der Basslage als selbstgerechter, engstirniger Vormund Marthas.

„Der Evangelimann“ ist keine Oper für virtuose Frauenstimmen. Die Martha als jugendlich-dramatischer Sopran tritt nur im ersten Akt auf. Die Magdalena als Mezzosopran hat einige starke Passagen im zweiten Akt. Sie ist auch die psychologisch interessantere Figur, da ihre selbstverleugnende Treue zum „bösen“ Johannes im Grunde unerklärt bleibt. Elisabeth Flechl und Alexandra Kloose als Martha und Magdalena holen aus ihren Rollen jedenfalls das Beste heraus.

Und gleiches gilt auch für die Leistung des Orchesters. Das Volksopernochester hat in den letzten zehn Jahren deutlich an Qualität gewonnen. Gerrit Prießnitz war ein sicherer und umsichtiger Dirigent  Man hatte den Eindruck, dass er die Musik Kienzls in ihren Stärken wie Schwächen versteht und mit Fingerspitzengefühl zu interpretieren wusste. Er trieb weder das wagnerhaft-Pompöse auf die Spitze, noch duldete er ein Abgleiten ins Oratorienhafte im ersten Bild des zweiten Akts, wenn Mathias vor dem Kinderchor im Zinskasernenhinterhof das Evangelium nach Matthäus predigt.

Lang anhaltender, für Volksopernverhältnisse geradezu enthusiastischer Schlussapplaus für alle Mitwirkenden, die sich diesen auch redlich verdient haben.  „Der Evangelimann“ wird leider in der nächsten Saison nicht im Repertoire des Hauses am Währinger Gürtel gespielt werden. Schade!

Published in: on 3. Juli 2011 at 18:22  Kommentare deaktiviert für Überm Abgrund zwischen Kitsch und Verismo  
Tags: , ,

Autoprinz contra Kohlenkönig


Operetten-Schnellkritik

Bühne Baden, Sommerarena, 26. Juni 2011

Leo Fall „Die Dollarprinzessin“ (Willner/Grünbaum)

Regie: Wolfgang Dosch  (4. Aufführung in dieser Inszenierung)

Dirigent: Oliver Ostermann

John Couder ….. Fritz Hille

Alice Couder ….. Katja Reichert

Fredy Wehrburg ….. Sebastian Reinthaller

Daisy Gray ….. Laura Scherwitzl

Hans Freiherr von Schlick ….. Alec Otto

Olga ….. Ingrid Habermann

Tom, Couders Bruder ….. Walter Schwab

Dick, Couders Neffe ….. Ronny Hein

—–

Sommerliches Bühnengeschehen. Es ist eine eigenartige Sache, mit ungefähr 400 Menschen, vorwiegend älteren Semestern, in einem Freilufttheater (gut, zur Pause wurde das vorher geöffnete Glasdach geschlossen) zu sitzen und einem Stück Musiktheater zu lauschen, das in der nächsten oder übernächsten Generation schon zur Kategorie „verlorenes Kulturgut“ gehören könnte.

Leo Falls 1907 im Theater an der Wien ohne nachhaltigen Erfolg uraufgeführte (einige Quellen nennen auch das böse Wort „durchgefallene“) Operette „Die Dollarprinzessin“ spielt in Amerika und spielt mit dem Gegensätzen zwischen alter und neuer Welt. Gleichzeitig erleben wir, jedenfalls in dieser Inszenierung, auch einen mittelgroßen wirtschaftlichen Paradigmenwechsel. Das „alte Geld“, verkörpert durch den jovialen Kohlenbaron und Eisenbahnspekulanten John Couder und seinen Clan, macht Bankrott und wird durch das „neue Geld“, den smarten, frisch eingewanderten Bankierssohn Alfred „Fredy“ Wehrburg („ab jetzt heiße ich Fred W. Castle“) abgelöst, der in Autos und Öl „macht“.

Um den in einer Operette unabdingbaren versöhnlichen Schluss zu gewährleisten, heiratet der frischgebackene „Autoprinz“ die fallierte Dollarprinzessin Alice, die ihn zuvor noch als ihren Angestellten piesacken durfte, und die nun, sozusagen vom Panzer des Goldes befreit, zu ihren Gefühlen für den Ex-Untergebenen stehen kann. Und ein bisserl Geld bleibt dem „Kohlenkönig a.D.“ am Ende doch, da Olga, die überreife Varieté-Schönheit, die ihm Bruder & Neffe, beide Schmarotzer, als russische Gräfin und neue Ehefrau „verkauft“ haben, den Schlingeln ein paar der von Couder gestohlenen und in der Schweiz deponierten Millionen wieder abluchst, weil sie ihren „Johnny-Boy“ eben doch mag.

Wie viel davon tatsächlich die Herren Willner und Grünbaum geschrieben, und wie viel die ungenannt bleibenden Bearbeiter des Musikverlags oder der Bühne Baden gedichtet haben, bleibt im Dunkeln. Mein Operettenführer schildert die Handlung jedenfalls in einigen Punkten ein bisserl anders (so machen die Couders dort etwa nicht Bankrott und John Couder „erkauft“ sich am Schluss die Scheidung von der ihn schnell wieder nervenden Olga).

Das Libretto spielt zwar in Amerika, folgt aber prototypisch den Schemata  der Wiener silbernen Operettenära: seriöses Sängerpaar (Fredy/Alice), Buffopaar (Hans/Daisy) und die komische Alten (John/Olga) haben ihre Auftritte und Duette. Es gibt eine große und mehrere kleine Balletteinlagen und die obligate Trennung des „seriösen“ Liebespaares am Ende des zweiten Aktes. Büromädels klappern geschäftig auf alten Remington-Schreibmaschinen, wenn Alice im ersten Akt noch mit starker Hand die Geschicke des Couder-Trusts lenkt. Sonst aber bleibt die Musik mehr bei den obligaten Walzerklängen.

Die Aufführung kam nur an wenigen Stellen über Stadttheaterniveau – allerdings erstklassiges solches – hinaus. So z.B. beim großen Duett Fredy-Alice im zweiten Akt. Da blitzte plötzlich (fast) echtes Gefühl zwischen Sängerin und Sänger auf, und der Funken der Inspiration sprang auch auf den Dirigenten und das bis dahin eher uninspiriert fidelnde, tutende und trommelnde Orchester über.

Dem „seriösen“ Paar gebührt auch eindeutig der Löwenanteil am musikalischen Lorbeer. Mit Sebastian Reinthaller hat die Bühne Baden auch einen erstklassigen Tenor für ihre „Sommerstagione“ engagiert, der sich für die kleine Partie des Fredy hörbar nicht übermenschlich anstrengen musste, dafür aber umso launiger spielen konnte. Die aus der  Schweiz stammende Sopranistin Katja Reichert verlieh der Titelheldin makelloses musikalisches Profil, blieb aber spielerisch eine Spur blasser. Sie konnte dem Publikum charakterlich weder die arrogant-kühle Finanzmagnatin noch das gehemmt-neurotische Töchterlein, also die beiden Seiten ihrer Rolle, vermitteln. Alec Otto als Hans von Schlick litt paradoxerweise darunter, dass seine Stimme für eine Tenorbuffo-Rolle und die Größe der Bühne fast ein wenig zu kraftvoll und heldenhaft klingt. Als seine Partnerin machte Laura Scherwitzl in der Soubrettenrolle der Milliardärsnichte Daisy Gray gute stimmliche Figur. Als Komikerpaar durften Fritz Hille (ein, wie ich der Homepage des Theaters entnehmen konnte, „altes Schlachtross“ der Bühnen- und Fernsehunterhaltung in der DDR) und Ingrid Habermann für die obligate Dosis Seniorensex sorgen. Rätselhaft blieb freilich auch in Herrn Hilles Darstellung, wie und wann John Couder, dieser gut gelaunte Alte, der sein Hauspersonal hauptsächlich unter ruinierten europäischen Adeligen rekrutiert, vom Börsenhai zum Tanzbären mutieren konnte.

Maestro Oliver Ostermann leitete das Badener Theaterorchester mit eleganter Gestik und Autorität, dennoch konnte er, wie schon ansatzweise beschrieben, Leo Falls Partitur nur an wenigen Stellen mehr entlocken als sommerlich-seichtoperettiges Hm-ta-ta.

Womit auch schon alles über die Inszenierung von Wolfgang Dosch gesagt wäre. Sie strudelt sich zwar bemüht ab, ein wenig von Drama und Absurdität der aktuellen Finanzwelt in die vom Jahr 1900 in die 1920er-Jahre verpflanzte Handlung zu projizieren, bringt aber am Ende doch nur ein paar müde Extra-Witzchen von Fitnessstudios in der Chefetage und Schwarzgeldkonten in Liechtenstein über die Rampe.

Für einen getippten Extra-Vorhang bitte ich nun zum Schluss die Damen und Herren des Balletts (Choreografie: Mátyás Jurkovics) auf die Bühne!

Freundlicher, anhaltender Applaus, für ein Publikum aus älteren, gemessen-bürgerlichen Semestern war es fast die Extase. 😉

Es ist Sommer, Freundinnen und Freunde, Zeit, alle Dollars und €uros dieser Welt zu vergessen und bei leichter Musik zu entspannen!

Published in: on 28. Juni 2011 at 20:14  Kommentare deaktiviert für Autoprinz contra Kohlenkönig  
Tags: , ,